EINE GANZ NORMALE GESCHICHTE ist die Geschichte eines Vaters, der losgeschickt wird, seine Tochter zu suchen und dabei auf die Spuren seiner eigenen Jugend gerät. Plötzlich sieht er sich mit der Frage konfrontiert, nach zwanzig Jahren sein bisheriges Leben zu verlassen.
Hier einige Auszüge aus der Geschichte:
Nach einer Weile erhebt sich Peter. "Ich bin mit Susanne verabredet und muss vorher noch duschen." "Wer ist Susanne?" "Ich habe sie heute in der Bar Ingrid kennen gelernt. Sie kommt auch aus Deutschland und macht Urlaub hier." Giorgio schüttelt den Kopf und lächelt, als er sich erhebt. "Pietro, Pietro, denke mal darüber nach, ob du hier nur deine Tochter suchst, oder auch deine Jugend." Peter bleibt in der offenen Zimmertür stehen und dreht sich um. Er sieht Giorgio gerade noch durch die quietschende Eisentür gehen. Auf dem Tisch stehen die Flasche, die beiden Gläser und der Aschenbecher.
"Was würdest du jetzt tun, wenn der Vulkan plötzlich ausbrechen würde?" fragt Peter. "Ich würde mich an dir festhalten," antwortet Susanne, ohne ihren Blick von der Weite des Meeres zurückzunehmen. Peter schaut sie an. „Und was würdest du tun, wenn er ausbricht?" "Ich würde dich in den Arm nehmen." Danach ist eine Weile Schweigen. Plötzlich ihre Worte: "Warum bricht dieser verdammte Vulkan denn nicht endlich aus!" Peter und Susanne schauen sich an und dann liegen sie sich in den Armen und küssen sich. Und sie halten sich fest und Peter ist es, als sei der Berg wirklich ausgebrochen, als bebe die Erde unter seinen Füßen. Er spürt ihre Haut, ihre Haare, ihren warmen weichen Körper und er will, dass dieser Moment zur Ewigkeit wird. Als sie sich nach einer Weile von einander lösen, sind beide ziemlich außer Atem und etwas verlegen. "Das ist diese Insel," sagt Susanne. "Die macht die Menschen verrückt." Sie sitzen nebeneinander an dem schwarzen Strand und Susanne hat ihren Kopf an seine Schulter gelegt. Er hört nur das Meer rauschen und sein Herz klopfen. Oder ihres? Oder beide?
Unterwegs sieht er einen Telefonapparat an der Wand hängen und denkt kurz an seine Frau. Bei seinem Haus angekommen, sieht er oben bei schwachem Licht Giorgio sitzen, trinken und rauchen. Er zögert einen Moment, geht aber nicht hinauf, sondern durch die quietschende Eisentür auf seine Terrasse. Dort stehen noch immer die Weinflasche und die Gläser, auch die Zigaretten liegen noch dort, die Giorgio vergessen hat. Er schenkt sich auch noch ein Glas ein, steckt sich eine Zigarette an, setzt sich in den Stuhl und legt die Füße auf den Tisch und den Kopf zurück um in den Himmel zu schauen. So sitzen sie beide da, zwei Männer, jeder auf seiner Terrasse, rauchend, trinkend und nachdenkend. Einsam, zufrieden und unzufrieden, glücklich und unglücklich. Der Wein tut das Übrige. Der Wein und die Nacht auf Stromboli.
Sie liebt ihn, ausgerechnet ihn. Das hat schon lange keine mehr gesagt. Selbst seine Frau nicht. Aber er hat es auch schon lange nicht mehr gesagt und er bringt es auch jetzt nicht raus. Als würde sie den Kampf in seinem Innern spüren und ihm helfen wollen, sagt sie: „Komm, lass uns hinunter gehen, wir fahren nach Vulcano.“ Sie macht sich sanft frei von seiner Umarmung und geht langsam unter den Zypressen hindurch Richtung Ausgang des Parkes. Peter klettert ebenfalls von der Mauer und schaut ihr nach. „Ich liebe dich auch, Susanne,“ sagt er so leise, dass sie es nicht mehr hört. Er kann von hinten ihre Tränen nicht sehen, die sie sich längst wieder abgewischt hat, als er sie einholt. Schweigend gehen sie über die breiten Stufen hinunter zum Hafen.
"Könntest du dir vorstellen, hier zu leben?" fragt sie ihn. "Diese Frage stellt sich nicht. Ich habe Familie zu Hause." Noch während er das sagt, denkt er über diese Frage nach. Giorgio hat auch Familie in Hamburg. Peter spürt schon seit gestern, als er auf Stromboli angekommen ist, eine seltsame Unruhe. Er schaut auf Susanne, diese junge hübsche Frau neben ihm am Tisch, was will sie von ihm? Und Giorgio, ein Mann, den er kaum kennt, und dennoch beschäftigt er seine Gedanken mehr als die Freunde, die er in Hannover hat. Und was will er selbst denn von Susanne? Er hat seit 21 Jahren eine Frau und er sucht seine Tochter und sein Sohn wartet in Hannover und Schröder in der Sparkasse und die Schneidhammers im Garten mit dem Grill. Alle warten auf ihn. Und auf was wartet er? Er schaut wieder zu Susanne.
„Ist es gefährlich auf diesen Berg zu gehen, weil hier überall diese Schilder stehen?“ fragt Peter. „Das ganze Leben ist gefährlich,“ erwidert Susanne. „Dass wir beide hier zusammen sind, ist auch gefährlich. Hast du Angst?“ „Vor was? Vor dem Berg oder vor dir?“ „Was ist denn gefährlicher?“ „Ich weiß nicht,“ überlegt Peter. „Ich muss den Berg erst kennen lernen.“
Sie hat sich in ihr verliebt, als er noch der spießige Bankangestellte war und in den wenigen Tagen ist er jetzt ihrem letzten Freund immer ähnlicher geworden, ein freiheitssuchender Abenteurer. Während sie ihm eine Zigarette reicht wird ihr erstmals klar, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben. Er gibt Feuer. Es sei denn, dieser Berg explodiert jetzt oder ein Blitz erschlägt sie. Dann hätten sie wenigstens eine gemeinsame Ewigkeit.
"Was würdest du jetzt tun, wenn der Vulkan plötzlich ausbricht?" fragt er sie, während sein Blick auf der dunklen Wolke über dem Gipfel liegt. Und es ist die gleiche Mauer, auf der er ihr vor 4 Tagen schon die gleiche Frage gestellt hat. "Ich würde mich an dir festhalten," antwortet sie genauso wie damals und lässt ihren Blick über das Meer schweifen. "Und was würdest du tun?" Schweigend sitzen sie auf der Mauer, er mit Blick auf den Berg, sie mit Blick aufs Meer, die entgegengesetzten Richtungen. Damals hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, da hat alles angefangen. Eine ganz normale Geschichte, hat sie gesagt. "Ich liebe dich, Susanne," sagt er und sie nickt mit ein paar Tränen in den Augen, die er in der Dunkelheit aber nicht sieht. "Ich weiß." Und dann umarmen sie sich doch und küssen sich und halten sich aneinander fest, als wären sie am Ertrinken.
Es war wunderschön.“ „Es war das verrückteste, das ich je gemacht habe,“ gesteht er und sie lacht. „Das ist diese Insel, die macht die Menschen verrückt.“ Er schaut sie an. Genau das hatte sie auch schon gesagt, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. „Wir sollten alle Tage und Nächte so verbringen, als wären es die letzten. Dann hätten wir nie etwas zu bereuen.“
Es ist wie ein Kampf, in dem es keinen Gewinner und keinen Verlierer geben kann, solange gekämpft wird. Nur wer aufgibt, verliert. Als hätten sie beide Angst davor, lassen sie nicht voneinander ab. In dieser Nacht holen sie all das nach, was ihnen in den letzten Jahren gefehlt hat, so als ob es auch für die nächsten Jahre wieder reichen müsste. So als ob es ihre letzte Nacht wäre.
Seit sieben Tagen ist er nun weg von zu Hause, denkt Peter. Sieben Tage soll damals die Schöpfung gedauert haben. Auch bei ihm ist in sieben Tagen eine neue Welt entstanden. Wie lange braucht er, um sie nun zu zerstören?
Sie lächelt: "Das ist doch eine ganz normale Geschichte. Man lernt sich im Urlaub kennen und verbringt ein paar schöne Tage miteinander, dann trennt man sich wieder. Da ist doch nichts dabei," wiederholt sie die Worte, die sie an ihrem ersten Abend wegen seiner Tochter gesagt hat.Das Schiff ist schon fast um die Insel herum nach Ginostra verschwunden, als er sich langsam abwendet. Der Anlegesteg ist leer, nur ein paar Netze liegen hier, der Wind wehr eine alte Zeitung über den Beton. Es sind keine Menschen mehr da, nur am Ende des Steges steht Giorgio.
Der Weg auf den Stromboli war schon immer verboten, wurde aber nicht kontrolliert. Nach den letzten großen Ausbrüchen 2002 wird jetzt der Berg sehr genau überwacht und mit Bestrafung gedroht, bei nicht erlaubter Gipfelbesteigung alleine. Natürlich ist ein aktiver Vulkan immer gefährlich und die Touristenmassen auf dem Gipfel waren sich dessen meistens nicht bewußt und sie gehörten dort auch nicht hin. Und schließlich wollen die Bergführer ja auch Geld verdienen. ;-)
Fast zehn Jahre später kehrt Ingrid Berger zurück auf die Insel Stromboli. Inzwischen selbst nach gescheiterter Ehe wieder geschieden, versucht sie den Spuren Ihres Vaters zu folgen, der die Familie damals verlassen hat. Sie glaubt sein Handeln jetzt verstehen zu können. Von Giorgio erfährt sie, dass ihr Vater die Insel schon vor Jahren verlassen hat. Sie lebt in seinem Haus und mit Hilfe von Eric, einem schwedischen Abenteurer, entdeckt sie Spuren, die sie auch zu Susanne nach Frankfurt führen und die darauf hinweisen, dass ihr Vater nach Puerto Montt in Chile ausgewandert ist. Zusammen mit Eric begibt sie sich auf die Reise nach Südamerika.
Hier einige Auszüge aus der Geschichte:
Ingrid Berger steht an Deck der Fähre und schaut auf die kleine Insel, der sich das Schiff langsam nähert und die so eng mit ihrem Leben verbunden ist. Der schwarze Gipfel des Berges ist wie meistens in eine dunkle Wolke gehüllt, an den grünen Hängen leuchten die Häuser als weiße Flecke. Die Sonne ist aufgegangen, steht aber noch tief über dem Meer. Ingrid ist müde und erschöpft von der langen Reise, aber sie spürt wie ihr Herz schneller zu schlagen beginnt und eine innere Unruhe sich ihrer bemächtigt. Vor zehn Jahren ist sie schon einmal auf Stromboli gewesen, damals, als sie zum ersten mal alleine in Urlaub fahren durfte.
Alles ist wie damals. Sie geht langsam über den Steg und dann auf der Straße nach rechts zum Dorf. Auf dem Parkplatz stehen einige Autos, ein Lastwagen, ein alter VW-Bus und ein Golf, ohne Nummernschilder, überzogen mit einer dicken Staubschicht und ohne Luft in den Reifen. Sie bleibt vor dem Auto stehen und schaut es nachdenklich an. Es ist der Wagen ihres Vaters, der damals vor zehn Jahren auf diese Insel gekommen war um sie zu suchen und der dann nicht mehr zurückgekehrt war. Sie spürt, wie sich eine unsichtbare Hand um ihr Herz zu klammern scheint. Plötzlich ist die Vergangenheit wieder so nah. Sie setzt ihren Rucksack auf einer Mauer ab, holt eine zerknitterte Postkarte heraus und schaut sie an. Die einzige Nachricht ihres Vaters, inzwischen auch schon sieben Jahre alt.
"Buon giorno, Signorina," ruft Giorgio strahlend, will weiter reden, doch es scheint ihm die Sprache verschlagen zu haben. Er starrt Ingrid mit großen Augen an. "Mama mia," flüstert er. "Das gibt es doch nicht," fügt er dann in deutsch hinzu. "Sie ist es wirklich?" Ingrid ist erstaunt, dass er sie zu erkennen scheint. Er streckt ihr die Hände entgegen und sie ihm unwillkürlich auch. Er nimmt ihre beiden Hände in seine. "Ingrid," flüstert er, "nun sind sie doch gekommen. Pietro hat immer daran geglaubt."
Er weiß, welche Frage jetzt kommt. Und sie weiß, was sie als erstes fragen muss. "Wo ist mein Vater?" fragt Ingrid mit belegter Stimme. "Sie wissen nichts von ihm?" fragt er und sie schüttelt den Kopf. "Ist mein Vater... tot?" Ihr Stimme ist ganz leise. "Aber nein, doch nicht Pietro, mein Freund. Nein, nein.... aber er ist weg."
"Warum ist er weggegangen?" fragt Ingrid. "War er nicht glücklich hier?" Giorgio denkt nach. "Oh doch, ich glaube schon, dass er glücklich war, zumindest ein Zeit lang. Aber er ist auch ruhelos gewesen. Er hatte immer das Gefühl, etwas zu versäumen. Ich glaube, er wollte sich nach den zwanzig Ehejahren einfach nicht mehr festsetzen.
Nichts erinnert sie hier an ihren Vater. Es scheint die Wohnung eines Fremden zu sein. Was hat sie denn erwartet? Ein zweites hannoversches Reihenhaus? Es ist spartanisch eingerichtet, aber gemütlich. An der Wand eine Fotovergrößerung von ihr. Fassungslos steht sie davor. Hat hier ein fremder Mann mit einem Bild von ihr an der Wand gelebt? Oder hat in dem Reihenhaus in Hannover 20 Jahre lang ein fremder Mann gelebt, oder einer, den sie nie richtig erkannt hat?
Dann hat sie plötzlich den Brief einer amtlichen Dienststelle in Puerto Montt in Chile in der Hand, wo es um den Kauf eines Grundstückes zu gehen scheint. Sollte ihr Vater nach Chile gegangen sein? Ein weiterer Brief aus Chile, diesmal aus Santiago, fällt ihr in die Hände. Was immer das bedeuten mag, ihr Vater hatte Kontakt nach Chile aufgenommen. Sie schließt die Schubladen wieder und atmet tief durch. Dann lehnt sie sich im Stuhl zurück und steckt sich eine Zigarette an. Sie schaut dem Rauch nach, der zur Decke steigt.
Was war das damals für eine Geschichte, die sich hier abgespielt hat und wie ist sie weitergegangen? Sie weiß, dass ihr Vater hier her gekommen war, um sie zu suchen. Doch was hat sich dann hier zugetragen? Wie lange kann man die Unzufriedenheit verstecken? Sie hat es auch einige Jahre fertig gebracht, ihr Vater zwanzig Jahre. War er wirklich so unzufrieden, oder was war es, das ihn veranlasst hat, nicht mehr zurückzukommen? Diese Insel ist nun wirklich kein Paradies, von dem man Träumen kann. Wo mag er jetzt wohl sein? Vielleicht wirklich in Südamerika? Oder wieder in Deutschland?
„Er ist einfach gegangen und nichts ist geblieben. Meine Familie, auch ich, sind einfach darüber hinweggegangen und zur Tagesordnung zurückgekehrt. Als ob es ihn nicht gegeben hätte. Wir haben alle unser eigenes Leben gelebt, vorher und nachher, aber nie richtig miteinander. Ich glaube, mein Vater hat es damals als erster gemerkt."
Sie ist jetzt fast zwei Tage unterwegs. Manchmal kommt es ihr viel länger vor, seit sie ihre vertraute Umgebung verlassen hat, ihren Job, ihre Wohnung. Alles war vertraut, nur sie selbst ist sich immer fremder geworden. Und jetzt steht sie hier. Was macht sie hier? Sie glaubt zu wissen, dass dies nur der Beginn einer langen Reise ist. Für ihren Vater ist es damals auch eine lange Reise geworden, die scheinbar auch noch nicht beendet ist. Plötzlich bekommt sie etwas Angst vor der Ungewissheit, die vor ihr liegt.
„Er hat doch aufgehört mich zu suchen. Ich glaube, er hatte selbst etwas gefunden, was ihm wichtiger war." "Wichtiger als du?" "Wichtiger als unser Familienleben in Hannover. Das Verhalten meiner Mutter hat ihm nachträglich recht gegeben." "Liebst du ihn noch?" Sie wird nachdenklich. "Woher soll ich das wissen? Ich glaube ich bin hier um das herauszufinden."
„Was immer du über deinen Vater denken magst, er war hier glücklich. Gönne ihm das. Es gibt nicht sehr viel Glück in einem Leben, jeder hat nur einen kleinen Teil zur Verfügung. Und dein Vater hat seinen Teil hier gefunden.“
EIN FENSTER IN ACIREALE ist die erste meiner Italienischen Erzählungen. Ich habe sie in einem Straßenlokal in Acireale/Sicilia auf einem Blatt Papier niedergeschrieben, während ich auf mein Essen gewartet habe. Ich habe dabei ein gegenüberliegendes Haus beobachtet und hier ein Fenster, hinter dem ich diese Geschichte angesiedelt habe. Ein Mann und eine Frau und ein Thema mit Variationen.
"Ich sitze im Garten eines Restaurants, an einem heißen Abend in Acireale auf Sizilien, einer Stadt zu Füßen des Ätnas am Meer. Vor mir eine Straße mit vielen Autos und entsprechendem Lärm. Gegenüber ein altes Haus, im zweiten Stock ein offenes Fenster und eine wehende Gardine, dahinter Dunkelheit. Was verbirgt sich hinter diesem Fenster? Es interessiert mich immer, was sich in den Häusern hinter irgendwelchen Fenstern ereignet. Und weil ich es nicht weiß und außerdem ein wenig Zeit habe, während ich auf mein Essen warte, erfinde ich es einfach. Jede -hnlichkeit mit der Wirklichkeit ist aber zwangsläufig. Und es muß auch nicht unbedingt ein Fenster in Acireale sein, aber vielleicht ist es gut, daß es so weit weg ist von den Fenstern, die wir täglich sehen. Und es muß auch nicht diese Geschichte sein, jede andere hätte auch ihre Gültigkeit."
- Heiß der Abend in Acireale. Die Straßen sind wie die Adern eines wilden Tieres. Es pulsiert aufgeregt und angespannt, es lärmt und stinkt. Die Fassade des Hauses ist einmal ockerfarben gewesen, oder so etwas ähnliches. Der Verputz ist abgeblättert, die eisernen Geländer an den bis zum Boden hinabgezogenen Fenstern sind verrostet. Die hölzernen Flügeltüren sind verwittert und die ehemals weißen Gardinen hängen achtlos über den Türen und bewegen sich langsam im Wind. Die Laterne vor dem Haus, um die sich die Nachtfalter scharen, schaukelt träge. Ihr Licht fällt schwach ins Innere des Raumes, der weiß gestrichen und nur spärlich eingerichtet ist. Eine dunkle Kommode, auf der etwas Wäsche liegt, ein Regal mich achtlos herumstehenden Büchern, eine staubbedeckte Palme und ein Bett mit eisernem Bettgestellt, breit und zerwühlt. Auf dem Teppich Gläser, eine Flasche, ein Aschenbecher. Die Frau ist nackt, liegt auf dem Bett und raucht. Der Mann steht mit freiem Oberkörper am Fenster, raucht ebenfalls und blickt hinunter auf die Straße. "Das war es also," sagt sie. "Ja," sagt er, "das war es also. Von Anfang an war es doch aussichtslos." Er dreht sich um. "Ja," sagt sie, "aussichtslos wie alles." Und hinter seinem Rücken flackert das Licht der Laterne durch das Fenster und die Geräusche der Straße dringen herauf und scheinen plötzlich doch so weit weg.-
"Als ich ein paar Tage später wieder in dem Lokal gegenüber des alten Hauses sitze, in welchem ich diese kleine Episode angesiedelt habe, denke ich beim Blick empor zu dem Fenster mit der wehenden Gardine: Hier war das also. Und für einen Moment zweifele ich, ob es wirklich dort stattgefunden hat, oder ob ich das alles nur erfunden habe. Das Fenster ist unverändert, die Gardine hängt wie vor Tagen über den Holztüren, dahinter ist es dunkel. Wie könnte es weitergegangen sein?"
- Der Raum unverändert, der Lärm der heraufklingt auch. Nur der Wind, der die Gardine bewegt, ist etwas kühler geworden. Die Frau steht hinter der Gardine, blickt hinunter auf die Straße und raucht. Er war auf der Durchreise, geschäftlich ein paar Tage in Catania. Welche Geschäfte? Keine Ahnung. Sie war einsam, so hatten sie zueinander gefunden. Das ist es, was sie traurig macht: Nicht das schnelle Auseinandergehen nach einer heißen Nacht, sondern das Sich-finden ohne sich gesucht zu haben. Nur etwas gesucht, nicht bestimmtes. Nur einen kurzen Aufenthalt auf einer einsamen Reise. Sie möchte auch gehen, hinunter zu einem Zug, einem Schiff. Wohin? Egal. Doch sie weiß, aus diesem Zimmer kommt sie nicht mehr raus. Sie wirft die Zigarette auf die Straße hinunter. Weinen? Dafür ist es doch längst zu spät. Und er? Im Nachtzug Catania-Roma, im Speisewagen ein kühler Drink, blättern in ein paar Akten, Notizen machen. Einsamkeit? Was ist das? Dafür ist keine Zeit. Ein neuer Termin wartet. Wie war eigentlich ihr Name? Er blickt aus dem Fenster des Zuges und was er sieht ist nur Dunkelheit.-
"Oder aber ganz anders:"
- Die Frau wieder auf dem Bett, nackt. Ein anderer Mann am Fenster. Wind und Straßenlärm wie gehabt. Beide rauchen. Sie hat den Abend neulich längst abgehakt, hat sich einen neuen Zeitvertreib gesucht. Sie holt sich immer was sie sie braucht, in dieses gottverdammte Zimmer. Immer dann, wenn die Nachdenklichkeit lauert, geht sie los. Einmal komme ich nicht mehr zurück, denkt sie, während sie auf den Rücken des Mannes schaut und so etwas wie Verachtung liegt in ihrem Blick. Verachtung für wen? Und er, von damals? Ein paar mal ist er noch unten auf der Straße vorbeigegangen, doch außer der wehenden Gardine hat er nichts gesehen, hinter diesem Fenster, wo für eine Nacht sein Zuhause gewesen ist. Dann ist er in eine Bar gegangen und hat sich betrunken und Abschied von einer Illusion genommen. "Sie war schlecht," sagt er immer wieder zu sich selbst. "Sie war ganz mies und schlecht." "Sie sind alle schlecht," sagt ein anderer Betrunkener neben ihm und er steht auf, schlägt dem anderen ins Gesicht und schreit: "Hör auf so schlecht von ihr zu reden."-
"Und wer wohnt wirklich hinter diesem Fenster? Ich will es garnicht wissen. Solche und solche, sie wohnen alle hinter irgendwelchen Fenstern und sie haben alle ihre Geschichte. Diese hier heißt: Ein Fenster in Acireale."
(Foto: Castiglione di Sicilia + Links: Portovenere/Liguria, Giarre u. Acireale/Sicilia)
DIE INSEL ist die Geschichte eines jungen „Yuppie-Pärchen“ das durch Zufall auf eine abgelegene Insel verschlagen wird und wegen eines Unwetter nicht mehr wegkommen. Die Inselbewohner kennen das bereits und haben für solche Fälle ein Spiel bereit: Die Jagd auf Touristen. Die Beziehung des Paares wird auf eine harte Probe gestellt.
Hier einige Auszüge aus der Geschichte:
Sie erschreckt, als ihnen plötzlich ein Mann entgegen kommt. Er hat einen Mantel an, den Kragen hoch geschlagen, einen Hut auf dem Kopf, den er gesenkt hält. Nur als er an ihnen vorbeigeht, schaut er kurz auf. Ein finsterer Blick, denkt Claudia, ein taxierender Blick. "Wo sind eigentlich die Frauen?" fragt sie Thomas. "Welche Frauen?" "Wir haben auf dieser Insel bis jetzt nur Männer gesehen. Wo sind denn die Frauen und die Kinder?" Thomas bleibt stehen und schaut sie an. "Wahrscheinlich sind sie in den Häusern. Bei diesem Wetter gehen sie nicht raus. Sie sind in der Küche." "Wo sie hingehören?" "Das habe ich nicht gesagt."
Claudia beobachtet die Männer beim Kartenspiel. Sie erschreckt, als plötzlich der Wirt neben ihr steht und den Espresso und den Schnaps bringt. Er zieht sich gleich wieder hinter seine Theke zurück, um sich weiter mit dem Geschirr zu beschäftigen. Der Mann hinter der Zeitung in der Ecke des Raumes schaut zu den beiden her. Claudia bemerkt es, ohne dass sie es sieht. "Prosit," sagt Thomas, nimmt sein Glas und schieb ihr das andere hin. Jetzt ist sowieso alles egal, denkt Claudia. Schnaps am Mittag? Das hier hat nichts mehr mit ihrem bisherigen Leben zu tun. Sie nimmt das Glas und schaut zu dem Mann mit der Zeitung hin, als wolle sie ihm zuprosten. Er senkt sofort seinen Blick und liest.
Etwas abseits vom Weg, geschützt durch einen Steinwall und ein rostiges Eisentor, zwischen Olivenbäumen steht dort ein kleines Haus mit einer Veranda. Ein Mann steht dort und schaut zu den beiden herüber. Thomas bleibt stehen. "Komm weiter," sagt Claudia. Thomas schaut zu dem Mann hinüber, ein alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht, und dieser schaut zu Thomas. Langsam, so als ob er etwas wisse, dreht er sich dann ab und verschwindet im Haus. "Was ist los?" ruft Claudia, die schon einige Meter weiter gegangen ist. Thomas ist etwas verwirrt, hat das Gefühl, als hätte der alte Mann ihm etwas sagen wollen mit seinem eindringlichem Blick, aber wahrscheinlich hat er nur die beiden Fremden eindringlich gemustert.
Claudia ist nicht ganz wohl unter den Blicken der vielen angetrunkenen und laut redenden Männern. Thomas trinkt, raucht und lacht. "Adriano, komm auch rüber," ruft der Mann auf deutsch und erklärt: "Adriano spricht auch deutsch." Gemeint ist der junge Mann, den Claudia immer wieder heimlich beobachtet hat. Er erhebt sich jetzt und kommt, am Tisch rücken sie sofort zur Seite, so als ob Adriano hier etwas zu sagen hätte. Ein freundliches Gesicht, kleine Falten in den Augen- und Mundwinkel und tiefschwarze Augen, die Claudia jetzt anschauen. "Hallo Claudia," sagt er. "Schön dass du auf unserer Insel bist." Und wie er das sagt, scheint er Thomas vollkommen aus der Unterhaltung ausschließen zu wollen und zum ersten mal fühlt sich dieser auch nicht mehr so ganz behaglich.
"Ihr könnt gehen." Thomas schaut ihn zweifelnd an. "Ihr bekommt 10 Minuten Vorsprung." Er geht einen Schritt auf die beiden zu. "Dann kommen wir dich holen." Er tippt Claudia auf die Brust. Jetzt müsstest du ihm eine reinschlagen, denkt Thomas, aber er traut sich nicht, angesichts der Übermacht. Außerdem scheint Adriano selbst auch recht kräftig zu sein und es geradezu darauf anzulegen, ihn zu demütigen. "10 Minuten Vorsprung?" fragt Claudia. "Was soll das bedeuten?" Adriano grinst: "Es ist ein Spiel, Senora. Nur ein Spiel." "Und wer wird Sieger sein?" fragt Claudia. Das Lächeln auf Adrianos Gesicht friert ein. "Sieger sind immer die Gleichen. Wie überall." Er bläst Thomas den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht. "Los, raus hier." Thomas zieht Claudia hinter sich her zur Tür.
Adriano nickt und beginnt mit Claudia zu tanzen. Und sie bewegt sich wie in Trance. Sie vergisst ihre Umgebung und die Gefahr, in der sie gewesen ist und schaut in seine schwarzen Augen und wieder ist es dieses Gefühl von Neugier und Angst, das von ihr Besitz ergreift. Aber sie spürt seine Arme und beginnt mit ihm zu tanzen.
"Es ist sehr einsam auf dieser Insel und es geschieht sehr selten etwas aufregendes. Die wenigen Frauen sind schon in der Kindheit in feste Hände versprochen und viele Männer sind aufs Festland in die Großstädte gezogen. Diejenigen, die hier geblieben sind, haben hier ihre Familien. Und wenn sie noch keine haben, dann brauchen sie etwas zum austoben." "Und da haben sie sich uns ausgesucht?" "Euch oder andere, das ist egal. Immer wenn Touristen auf dieser Insel wegen des Sturmes hängen bleiben, findet dieses Spiel statt. Alle wissen das. Die Frauen bleiben in ihren Häusern und verschließen die Türen und die Männer gehen auf die Jagd."
"Als ich sie zuletzt gesehen habe, hat sie mit Adriano getanzt," sagt Thomas leise und spürt, wie eine ohnmächtige Wut in ihm aufsteigt. Pietro lacht. "Deine Claudia ist eine kluge Frau. Adriano ist der Anführer der Männer, wenn sie ihn auf ihre Seite bringt, wird er sie vor den anderen beschützen." "Ach, da soll ich ihm wohl noch dankbar sein?" "Hast du sie beschützen können?" "Nein," schreit Thomas. "Wie sollte ich, bei der Übermacht?" "Aber vielleicht hätte sie es erwartet." Pietro schaut Thomas an. "Nicht wahr, das denkst du doch? Sie hat es erwartet und du hast versagt?" Thomas starrt Pietro an. Eine Weile schweigen die beiden Männer.
Claudia und Adriano sitzen auf dem Bettrand, sie rechts, er links, beide noch nackt und mit den Rücken zueinander. Sie schweigen, denn es scheinen ihnen die richtigen Worte nicht einzufallen, um diese Nacht zu beenden. Ihr gegenüber befindet sich eine kahle Wand mit einer hässlichen Blumentapete und der zerkratzten Holztür. Draußen auf dem Flur hört sie irgendwelche Stimmen. Sie dreht sich um, sieht seinen Rücken, dahinter das Fenster mit dem grauen Morgen und dem Meeresrauschen. Am liebsten würde sie jetzt aufstehen und einfach hinausgehen. Sie fühlt sich schwach und leer, ausgebrannt. Wo ist all das Feuer der Nacht? Es ist kalt an diesem Morgen oder liegt das nicht nur an diesem Morgen?
"Du hast verloren, Adriano. Ich gehe zurück zu Thomas und du gehst von mir aus zum Teufel." Adriano erhebt sich langsam und zieht sein Hemd über. Die Zigarette hängt in seinem Mundwinkel, wie meistens, und er schaut Claudia an. "Du wirst nie wieder so glücklich und zufrieden sein, wie in dieser Nacht," sagt er. Sie ist inzwischen fertig angezogen, steht vor der Tür und schaut ihn an. "Vielleicht. Aber auch nie wieder so schlecht."
Langsam und leise bewegt sich Thomas durch den Hof zur Treppe. Oben hört er Claudia und Adriano reden. Dann öffnet sich die Tür zu ihrem Zimmer. Thomas hebt das Gewehr und spannt den Hahn. Vorsichtig steigt er die Treppe nach oben. Er sieht Claudia mit dem Rücken in der Tür stehen, sie spricht mit Adriano, der jetzt auch in der Tür erscheint, sich jedoch gleich umdreht und Thomas somit nicht sehen kann. Er hört nur, wie Adriano sagt: "Ich weiß, es ist ein Scheiß Spiel." Dann sieht Claudia ihn und reißt erschrocken Augen und Mund auf, aber kein Wort kommt über ihre Lippen. Thomas geht langsam über die Treppe nach oben, Adriano erkennt das Entsetzen in Claudias Gesicht und dreht sich um. Vor ihm steht Thomas und er spürt den Lauf des Gewehres auf seinem Bauch.
DER ERSTE REIF IN RIMINI ist der Titel eines Liedes von André Heller. Ich habe ihn verwendet für die Geschichte eines Schriftstellers, der über einen Mann schreibt. der im Herbst an einem Adria-Strand spazieren geht und über sein Leben nachdenkt. Und weil das zu Hause am Schreibtisch nicht gelingt, bin ich nach Rimini gefahren und dort am Strand spazieren gegangen. In der Geschichte vermischt sich die Realität mit der Fantasie. Der Schriftsteller versucht, die Personen, die ihm begegnen in seine Geschichte einzubauen. Und irgendwann kann er nicht mehr auseinanderhalten, was Erfindung und Wirklichkeit ist. Der Spaziergang steuert auf ein dramatisches Ende zu.
DAS ENDE VOM LIED ist die Geschichte eines Ehepaares, das zur Silbernen Hochzeit noch einmal die gleiche Reise machen will, wie damals vor fünfundzwanzig Jahren, als sie sich kennen gelernt haben. Jetzt mit dem Wohnmobil, damals mit Rucksack per Anhalter. Jedoch sie müssen feststellen, dass die Städte und Landschaften genau so wenig sind wie früher, wie sie selbst. Dennoch kommt es zu einer Entscheidung, die damals zwar überlegt, aber nicht getroffen wurde und die schließlich zu einer getrennten Wanderung (oder Flucht?) durch Cinque Terre führt. Während bei ihr die Freude über die Freiheit der Angst vor der Ungewissheit weicht, wechselt bei Ihm Ärger und Wut zum vorsichtigen Verständnis.
Hier einige Auszüge aus der Geschichte:
"Weißt du noch, damals sind wir auf so einen Zug aufgesprungen," sagt Angelika und Franz nickt. "Wie weit kommen wir heute noch?" fragt sie dann. Er lacht. "Das haben wir damals nicht gewusst. Wir wussten ja noch nicht mal wohin der Zug fuhr. Ich glaube, er ist bis Modena gefahren." "Es war Verona," entgegnet Angelika. "Der Zug hat in Verona gehalten." "Es war Modena." "Verona. Ich weiß es genau." "Du musst immer alles besser wissen." Danach schweigen sie wieder eine ganze Zeit lang. Sie fahren eine Strecke, die sie in den letzten Jahren schon oft gefahren sind, auf ihrem Weg nach Jesolo. Die Landschaft ist ihnen vertraut, es gibt nichts neues zu sehen. Allerdings haben sie seit damals nicht mehr in Verona angehalten. "Das war ganz schön leichtsinnig," sagt er nachdenklich. "Was meinst du?" "Na das mit dem Zug, damals." Sie lacht. "Ich fand es toll." Ja, ja, denkt er, du warst schon ein wildes Mädchen.
Nach dem Essen schaltet Franz den Fernsehapparat an und macht es sich auf der Polsterbank bequem. Angelika spült noch schnell das Geschirr ab und setzt sich dann zu ihm. Eigentlich hat sie sich diesen Abend ja anders vorgestellt, aber leider gibt es den Campingplatz und das Restaurant von damals nicht mehr. Und für einen Spaziergang in der Stadt ist sie jetzt zu müde. Vielleicht hat Franz recht: Diese Reise ist wohl wirklich eine verrückte Idee. Nichts wird mehr so sein, wie früher. Alles wird so sein, wie immer. Irgendwann legen sie sich dann schlafen, ein kurzer Kuss und ein "Gute Nacht, schlaf gut", und das war's dann. - - -
"Er erhebt sich jetzt auch und nebeneinander schlendern sie durch die Dunkelheit über die Straße. "Es ist wunderschön hier," sagt sie und schaut wieder zum Himmel. Er greift nach ihrer Hand um sie zu führen und sie lässt es gewähren. Eine Weile gehen sie schweigend nebeneinander. Sie spürt den festen Griff seiner Hand, ab und zu berühren sie sich mit den Schultern. Wie lange ist es her, dass sie zum letzten mal mit Franz so spazieren gegangen ist? Franz und Frank, wie ähnlich die Namen klingen und doch liegen Welten dazwischen. Fünfundzwanzig Jahre.
Irgendwie war das damals alles so selbstverständlich. Und sie hatte ja nicht nur das Studium aufgegeben, sondern auch einen Teil ihres Lebens, ihrer Freundinnen und Freunde. Ich darf ihm das aber jetzt nicht zum Vorwurf machen, überlegt sie sich, während sie Franz beim steuern des Wohnmobils beobachtet. Natürlich hatte er es so erwartet, auch wenn er es nie direkt gesagt hatte, aber schließlich hat sie es doch auch so gewollt. Zumindest geglaubt, dass sie es so wollte. Aber was war damals der Grund für den Streit? "Weißt du noch, dass wir uns damals in Portovenere gestritten hatten?" fragt sie ihn und er schaut sie an. "Gestritten? Keine Ahnung. Haben wir jemals gestritten?" Sie denkt nach. "Seit damals nicht mehr," sagt sie leise. Und damals nicht genug, hätte sie beinahe noch hinzugefügt
Was wäre wohl geschehen, wenn sie damals einfach weggegangen wäre? Natürlich hätte sie das vor der Hochzeit einfacher haben können, aber da hatte sie ja noch nicht dieses Gewicht gespürt, das danach plötzlich auf ihr lastete. Vielleicht hätten sie sich damals wieder scheiden lassen, noch bevor die Kinder gekommen wären. Was würde wohl geschehen, wenn sie jetzt einfach losginge? Ganz in Gedanken versunken erhebt sie sich und schlendert über die Treppe nach unten und an einer Mauer des Castellos entlang. Irgendwann findet sie sich auf dem steinigen Weg, hoch über dem Castello wieder und sieht die kleine Kirche auf der Landzunge tief unter sich liegen. Steile Felswände fallen hier senkrecht in das Meer hinab. Dies ist der Wanderweg nach Levanto, quer durch Cinque Terre.
Es beginnt inzwischen zu dämmern. Franz sitzt im Büro der Carabinieris in Portovenere, zwei Beamte sind bei ihm, wovon einer etwas Deutsch spricht. Da Franz auch ein wenig Italienisch kann, ist eine Verständigung möglich. "Sie müssen endlich was tun, es ist ihr bestimmt etwas zugestoßen." "Ihr Frau ist am frühen Nachmittag alleine losgegangen und bis jetzt nicht zurück. Das ist gerade ein paar Stunden her. Warum soll ihr was passiert sein?" Der Beamte hinter den Schreibtisch zündet sich eine Zigarette an, während der Zweite gelangweilt aus dem Fenster schaut. "Sie hat gesagt, sie wolle nur eine halbe Stunde weggehen. Ich habe eine Stunde gewartet und dann das ganze verdammte Nest durchsucht." "Unsere Stadt ist kein verdammtes Nest," unterbricht der Italiener ihn. "Haben sie schon in ihrem verdammten Wohnmobil nachgeschaut?" Der zweite Beamte lacht und Franz sieht sein Gegenüber erstaunt an. Natürlich war ich bei dem Auto. Sie war nicht da." Der Mann am Fenster sagt etwas auf italienisch und der andere übersetzt: "Vielleicht ist ihre Frau weggelaufen." "Weggelaufen?" Franz ist empört. "So ein Quatsch. Wir sind seit 25 Jahren verheiratet." "Eben," meint der Carabinieri grinsend.
Also los geht's, denkt er. Ich finde dich, Angelika, du kannst mir nicht einfach davonlaufen. Und wenn das ein Spiel sein soll, so werde ich es gewinnen. Der Gedanke, dass er es vielleicht schon längst verloren haben könnte, kommt ihm nicht.
Aber dann erinnert er sich wieder daran, dass er hier ja nicht zu seinem Vergnügen spazieren geht. Seine Frau ist ihm weggelaufen und er ist unterwegs um sie zu suchen. Wenn sie das vor 25 Jahren schon getan hätte, was hätte er da wohl gemacht? Sicher hätte er sie auch gesucht, denn ganz sicher hätte er es damals genauso wenig verstanden wie heute.
"Ich bin Andreas," sagt er und schaut sie an. "Angelika," antwortet sie und wird jetzt doch ein wenig nervös. "Der Motor war kaputt," sagt er und sie nickt verstehend: "Dachte ich mir." Der andere Mann verabschiedet sich jetzt auf italienisch von Andreas, welcher beide Sprachen scheinbar perfekt spricht. "Ich muss eine Probefahrt machen, wollen sie mitfahren?" "Wo fahren sie hin?" "Wohin sie wollen." Angelika denkt nach. "Also gut, nach Haiti." Andreas schaut sie an und lächelt. Ihr wird dabei plötzlich ganz heiß. "Nach Haiti, na schön."
Sie ist fasziniert von dieser grandiosen Landschaft. Und hinter ihr liegt das offene Meer. "Hören sie das?" sagt sie plötzlich leise und er schaut sie fragend an. "Diese Melodie. Mir ist es, als wäre da eine leise Melodie in der Luft." In mir, denkt sie, sie ist in mir. "Sagen sie mir, was für ein Lied das ist, was sie da hören?" fragt er sie und scheint sich in keiner Weise mehr lustig über sie zu machen. "Ich weiß es nicht," sagt sie nachdenklich. "Ich weiß es noch nicht."
Katharina greift nach seiner Hand auf dem Tisch. "Oh Franz. Warum läufst du jetzt hinter ihr her? Willst du sie wieder einfangen? Willst du sie schlagen oder mit ihr reden? Oder glaubst du, alles wird wieder so wie früher sein, wenn du sie gefunden hast?" "Warum nicht. Wir können doch noch mal neu anfangen." "Lieber Franz, begreife, dass euere Zeit abgelaufen ist. Wenn ihr wieder neu anfangt, dann wird es wieder genau so enden wie jetzt, nur dass es dann zu spät sein wird, für einen Neuanfang. Sei zufrieden mit der Zeit, die ihr hattet, euere Kinder sind groß, ihr habt alles erreicht. Lass es gut sein, überziehe die Zeit nicht." "Du machst dir das einfach, Katharina. So leicht kann ich 25 Jahre nicht einfach wegwerfen." "Wer spricht denn von wegwerfen? Gibt es für dich nur festhalten oder wegwerfen? Dazwischen, Franz, dazwischen liegt das ganze Leben."
Er spürt plötzlich einen brennenden Schmerz in sich, weil ihm klar wird, in welchem Berg von Kompromissen und Zwängen er und Angelika all die Jahre gelebt haben. Ein Berg, den sie selbst aufgeschüttet haben und der jedes Jahr gewachsen ist. Natürlich hatten sie einmal gute Vorsätze gehabt, doch deren Scheitern haben sie nicht mehr bemerkt. Sie haben ihre Resignation als Zufriedenheit missdeutet. Ihr Leben war eine Anhäufung von Irrtümern. Ihr gemeinsames Glück war nichts anderes als Unwissenheit. Sie haben sich aneinander festgehalten, aus Angst abzustürzen, sich aber gegenseitig daran gehindert, davonzufliegen. Er spürt eine große Liebe zu Angelika, jetzt wo er glaubt, sie verloren zu haben. Und eine große Wärme, wegen all der banalen Zärtlichkeiten, mit denen sie versucht hat, ein gemütliches Heim zu schaffen. Und plötzlich weiß er, dass er ihr nicht mehr böse sein kann. Er wünscht sich nur, dass er ihr das alles eines Tages einmal sagen kann.
BISTRO ROMA ist die Geschichte einer Frau, die ihre bisherige Welt verlässt um wieder zu sich selbst zu finden. Sie fährt nach Rom, weil mit dieser Stadt die Erinnerung an frühere wichtige Zeiten verbunden ist.
(für Martina)
Hier einige Auszüge aus der Geschichte:
Wie beginnt man ein Gespräch? Hat das erste Wort, das man sagt, eine besondere Bedeutung? Wie „führt“ man ein Gespräch? Wie einen Hund an der Leine? Oder bewegt es sich von selbst? Sie fragt sich, ob sie keine Erfahrung mehr hat im Reden. Können einem die Worte verloren gehen? Unsere Sprachen haben allesamt zu viele Wörter, denkt sie und ihr fällt wieder die lateinische Sprache ein, in die sie sich an den langen einsamen Abenden immer geflüchtet hat, in der sie sich sicher und zu hause gefühlt hat, nach dem Stress und Ärger des Alltages. „Sprechen sie lateinisch“ fragt sie ihn und hat somit das Gespräch „eröffnet“. „Ich spreche wenig,“ antwortet er, so als ob dies eine eigene Sprache wäre. „Was hat sie hier her verschlagen?“ „Ihre Augen.“ „Ich meine nicht hier an diesen Tisch, sondern nach Rom.“ „Das meine ich auch.“ Sie schaut ihn an und lächelt nachdenklich. „Was ist mit meinen Augen?“ „Sie suchen.“ „Und sie sind auch ein Suchender?“ „Ja.“ „Da haben wir tatsächlich was gemeinsam.“ Sie fragt nicht, was er denn sucht und hofft, dass er sie auch nicht fragt. Suchende würden durch diese Frage entlarvt. Jetzt lächelt er auch und er fragt sie nicht.
„Ich versuche eine Geschichte zu schreiben. Hätten sie was dagegen, darin mitzuspielen?“ „Was soll ich denn in ihrer Geschichte?“ „Nein, es ist nicht meine Geschichte, die ich schreiben will, es ist ihre Geschichte.“ Sie sieht ihn erstaunt an. „Meine Vergangenheit oder meine Zukunft?“ „Was wäre ihnen denn lieber?“ „Wollen sie eine traurige oder eine lustige Geschichte schreiben?“ „Alle lustigen Geschichten sind traurig und alle traurigen Geschichten sind lustig.“ Sie wird nachdenklich und sagt leise: „Meine traurige Geschichte ist traurig.“
„Ich glaube, ich habe gar nicht so richtig realisiert was ich tue, als ich in der Nacht meinen Koffer packte. Mein Mann war müde, wie so oft, hat sich ins Bett zurückgezogen und ich habe noch bis nach Mitternacht Abrechnungen gemacht. Irgendwann habe ich die Ordner zugeklappt und meinen Koffer gepackt. Ich weiß nicht, wie lange ich beschäftigt war, aber als ich das Haus verließ, begann es bereits zu dämmern.“ „Haben sie sich verabschiedet?“ Sie lacht. „Von meinen Büchern habe ich mich verabschiedet. Ich bin in mein Zimmer gegangen und habe mich von meinem Bücherregal verabschiedet.“ „Das waren ihre einzigen Freunde,“ stellt er fest und sie nickt. „Dieses Zimmer war mein Zuhause. Nur dieses Zimmer, nichts sonst. Das ist mir an diesem Morgen klar geworden.“
„Warum heiratet man? Irgendwo habe ich mal gelesen, man sucht die verlorengegangene Seite von sich selbst, um sie dann zu bekämpfen. Oder man bekommt plötzlich Angst vor dem alleine sein. Vielleicht ist es das Alter oder die Müdigkeit, die einen die Zweisamkeit suchen lässt. Was immer es sein mag, es ist eine Illusion. Wir machen uns vor, dass wir das Glück gefunden haben, solange, bis wir es selbst glauben. Wie soll es möglich sein, das Glück in einer anderen Person zu finden, wenn nicht in sich selbst?“ Danach macht sie eine kleine Pause. „Ja, vielleicht habe ich meinen Mann einmal geliebt und wahrscheinlich hat er mich auch einmal geliebt und liebt mich immer noch. Soweit er überhaupt dazu in der Lage ist und soweit ich überhaupt weiß, was Liebe ist. Das, was ich bisher dafür gehalten habe, ist es jedenfalls nicht gewesen.“ „Und wie war das vor ihrer Ehe? Haben sie da geliebt?“ „Wen?“ „Ich weiß nicht.“ „Ich auch nicht.“ Sie hat schnell geantwortet und denkt jetzt nach. Wann hat sie das letzte mal jemanden geliebt und wann hat jemand sie geliebt? „Ich glaube, ich kann mit dem Wort Liebe nichts mehr anfangen. Es wird immer überlagert von etwas anderem. Faszination, Sehnsucht, Lust... Erich Fried hat mal geschrieben: Die Stille ist das, was übrig bleibt von den Schreien.“
DER ANDERE ist die Geschichte eines Schriftstellers, der mit dem Schreiben am Ende angekommen ist. Er stellt sich und seine Arbeit in Frage. Auf einer kleinen Insel erhofft er, mit seinen Problemen ins Reine zu kommen. Doch da trifft er den Anderen.
Hier einige Auszüge aus der Geschichte:
Tanner weiß, dass seine Personen alle zum Leben erwachen, während er schreibt. Sie begleiten ihn bei seiner Arbeit und er begleitet sie ein Stück durch ihr Leben und manche auch bis zu ihrem Tod. Wie oft hat er sich schon von seinen Personen verabschiedet. Und wenn er die letzte Seite geschrieben hat, dann gehen die Personen aus seinem Leben, ohne sich zu verabschieden. Schreiben ist ein ständiger Abschied und der Schriftsteller bleibt alleine damit.
„Haben Sie mal überlegt, wie viele Steine hier an diesem Strand liegen“ fragt der Andere, der plötzlich neben ihm aufgetaucht ist. Tanner hat ihn gar nicht kommen sehen. Aber er fühlt sich ertappt, denn genau über diese Frage hat er auch gerade nachgedacht. Er hat sich vorgestellt, jeder Stein wäre ein Wort und dabei ist ihm ein Satz eingefallen, den er selbst vor vielen Jahren mal geschrieben hat: „Böse Worte sind wie fliegende Steine.“ „Und wie viele haben Sie geworfen?“ fragt der Andere. Tanner muss den Satz offensichtlich laut vor sich hingesprochen haben. „Ich habe nur den ersten geworfen,“ antwortet Tanner und geht schweigend weiter. Hinter sich hört er die Schritte des Anderen auf den Steinen knirschen.
„Sie haben die Macht verloren,“ sagt der Andere. „Wenn Sie nicht mehr schreiben, können Sie die Dinge nicht mehr lenken. Ich glaube, es geht hier um die Macht.“ Tanner will protestieren, verschluckt sich aber und muss Husten. Der Andere fährt ungehindert fort: „Sie fühlen sich wie Gott. Sie bestimmen was geschieht und es geschieht. Sie sind Herr über Leben und Tod, aber Sie verwechseln Fantasie und Wirklichkeit. Sie haben Frauke nicht erfunden...“ der Andere zögert und fügt noch zweifelnd hinzu: „...oder?“
Tanner ist entsetzt stehen geblieben. „Ich habe beim Schreiben nie Macht empfunden, sondern eher Ohnmacht. Ich war meinen Gedanken hilflos ausgeliefert.“ „Ja, ihren Gedanken. Und diese Hilflosigkeit haben Sie an ihren Figuren ausgelassen, das ist die Macht, die ich meine. Sie haben einen Weg gefunden, ihre Ohnmacht in Macht zu verwandeln und somit zu bewältigen. Sie haben ihr schwaches Selbstwertgefühl dadurch aufgewertet.“ „Jetzt hören sie aber auf mit dem Quatsch,“ braust Tanner auf. „Das muss ich mir nun wirklich nicht anhören.“ „Nein, müssen Sie nicht,“ bestätigt der Andere und geht weiter. Tanner folgt ihm.
Der Andere hilft ihm weiter: „Man kann sich in seiner vertrauten Umwelt viel besser vor dem Leben verstecken, als in der Fremde. Wenn alles arrangiert ist, alles funktioniert und alles vorhanden ist, alles automatisch und selbstverständlich ist, wenn immer die passenden oder auch die unpassenden Leute um einen herum sind, wenn man seine vorgegebenen Aufgaben hat, dann kann man sich sehr gut vor dem Leben verstecken. Man merkt es nur nicht, weil man das, was man tut für Leben hält, weil man sich dabei vielleicht auch noch wohlfühlt. Wenn aber das alles plötzlich wegfällt, all diese künstlichen selbstgeschaffenen Gebilde um einen herum, wenn diese Vertrautheit, diese scheinbare Geborgenheit, diese selbstangelegten Ketten plötzlich wegfallen, was bleibt dann?“ „Das Leben,“ antwortet Tanner.