EIN FEST IM DUNKELN ist die Geschichte eines Mannes, der sich im Spätsommer in eine einsame Blockhütte im Wald am norwegischen Polarkreis zurückzieht um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. In seiner selbstgewählten Isolation bemerkt er plötzlich, dass er beobachtet wird. Beim Versuch herauszufinden wer der Beobachter ist, nimmt er Kontakt zu den Einwohnern eines nahegelegenen Dorfes auf und verläßt damit die Annonymität seiner Einsamkeit, deren Grund er immer mehr vegißt. Plötzlich sind da wieder andere Menschen und längst vergessen geglaubte Gefühle, wie Nähe, Freundschaft und Liebe. Doch die dunklen Seiten seiner Vergangenheit holen ihn wieder ein, mit der beginnenden langen Dunkelheit des Polarwinters. Auch sein vermeintlicher Beobachter scheint ihm näher zu kommen. Er begreift, dass auch die größte Einsamkeit Lapplands nicht ausreicht, sich selbst zu entkommen. Das bevorstehende Fest im Dorf bringt eine Entscheidung. (Foto + Links: Krokstrand-Polarsirkelen/Norge)
Über Zehn Jahre war sie meine beste Freundin und engste Vertraute. Man könnte fast sagen, wir haben ein Stück unseres Lebens mit all seinen Höhen und Tiefen geteilt, bevor sie sich einen Traum erfüllt hat und ans andere Ende der Welt ausgewandert ist. (Auf der Skandinavien-Seite ist diese Widmung deshalb, weil ich diesen Teil Europas erst nach ihrem Weggehen für mich entdeckt habe.)
(Ich habe einmal über Barbara gesagt: "Mit ihr könnte ich in einem Reihenhaus leben oder die Welt erobern." --- Nun hat sie die Welt alleine erobert!)
"...jetzt bist so weit weit weg, so weit weit weg von mir..., des tuat ma schia`, und wiea!" Hubert von Goisern: "weit weit weg" (Musik-Link zu youtube)
(Cornwall/England)
"Nur umherirrend kann ich mit allen sein, die ich liebe." (Octavio Smith)
Auf meiner letztjährigen Tour zum Nordkap hatte ich damit angefangen und es war zu einer lieben Gewohnheit geworden: Jeden Abend direkt vom Campingplatz aus noch einen Spaziergang zu machen. Ganz egal wie viel Kilometer ich am Tag gefahren war, welche Berg- oder Radtouren, Stadtbesichtigungen oder Wanderungen ich unternommen hatte, es wurde abends noch ein Spaziergang gemacht. Natürlich wurde es dadurch erleichtert, dass es hoch im Norden nicht dunkel wurde und interessant war es dadurch, dass es fast jeden Abend eine andere Gegend war. Aber es waren immer Gegenden, in die man nicht extra wegen einer Wanderung fahren würde, zum Beispiel abseits der Durchgangsstraßen oder in Stadtrandbezirken. Dieses Zufallsprinzip führte mich also meistens in Gebiete, in die ich sonst nie gekommen wäre und das machte es so spannend. Mal war es eine Wohnsiedlung mit netten Häusern und Gärten, mal ein Sportplatz und Freizeitgelände, ein Stadtpark, landwirtschaftliche Gehöfte, oder auch mal ein Industriegebiet oder Hafengelände. Auf diese Weise lernte ich Land und Leute besser kennen, als bei den touristischen Sehenswürdigkeiten. Hier lebten die Menschen wirklich, hier arbeiteten sie, verbrachten ihre Freizeit, - hier waren sie zu Hause. Und ich auch, zumindest für diesen Abend.
Ich schlendere langsam über den Campingplatz, vorbei an gardinenbehängten Wohnmobilen mit großen Satelitenschüsseln, durch den Rauch der Grillkohle, hin zu den Zelten am Waldrand, wo die jungen Leute im Gras sitzen. Es ist früher Abend, die täglichen Touren sind beendet, Gemütlichkeit ist angesagt. Am Ende des Platzes komme ich an einen Zaun, über dem ein paar Handtücher zum trocknen hängen. Ein großes Tor ist abgeschlossen, bietet aber kein Hindernis für mich. Ich habe es schnell überklettert und den Campingplatz bald hinter Büschen und Bäumen zurückgelassen. Es ist wie das Eintauchen in eine andere fremde Welt. Die Ghettos der Campinganlagen in aller Welt sind mir vertraut. Ich hasse sie und liebe sie doch.
Jetzt aber bin ich in einem fremden Land. Keine Platzordnung sagt mir hier, was zu tun ist. Ich folge einem schmalen Pfad und erreiche nach wenigen Minuten eine kleine Straße, von der ich nicht weiß, wo sie herkommt und wo sie hinführt. Ich gehe nach links, ohne zu wissen warum. Ich gehe langsam, schaue mir die Pflanzen am Straßenrand an, und stelle fest, dass, anders als sonst in Italien, hier kein Müll liegt. An einer Bushaltestelle lese ich den Fahrplan, fremde Namen von unbekannten Stationen. Auch die ersten Häuser sehe ich jetzt, kleine Einfamilienhäuser mit Gärten und Garagen. Hinter den Fenstern brennt nur selten Licht, aber es ist ja noch hell. An den Briefkästen stehen Namen, die ich nicht kenne, aber ich mache sie zu meinen Bekannten: Ach hier wohnt der Hilmar Knudsen, denke ich. Na, schön hat er es hier. Und der Wilhelmson, sein Nachbar, ob er sich mit dem gut versteht? Na ja, seit sein Sohn bei dem die große Fensterscheibe eingeschmissen hat, ist das Verhältnis etwas gespannt. Ich versuche hinter den Fenstern etwas zu erkennen, sehe eine Frau in einer Küche herumhantieren und denke, nett schaut sie aus, die Frau Aalsund. Wahrscheinlich kommt ihr Mann gleich heim und da muss was Warmes auf dem Tisch stehen. So unterschiedlich sind die Menschen doch gar nicht, wie sie oft zu sein glauben.
Die Häuser sind jetzt etwas größer, Mietshäuser mit hölzernen Balkonen und hängenden Pflanzentöpfen. Die Autos stehen am Straßenrand, eine Katze sitzt auf einer Mauer und schaut mich an. „Na du,“ sage ich, aber sie versteht mich nicht. An der nächsten Ecke ist ein kleines Cafe. Hier würde ich wohl auch ab und zu einkehren, wenn ich in diesem Viertel wohnen würde. Es gibt einige kleine Geschäfte, wo ich vermutlich einkaufen würde, ein kleiner Park mit Bänken, wo ich manchmal sitzen würde. Während ich hier entlang schlendere, versuche ich ganz in diese Gegend einzutauchen, sie zu meiner zu machen. Dadurch kommt mir alles näher, wird vertrauter, die Straßen, die Häuser und die Menschen. Ich bin nicht mehr der allein und ruhelos umherziehende Reisende, sondern einer, der vielleicht gerade von der Arbeit oder vom Einkaufen nach Hause kommt, oder nach dem Abendessen noch mal kurz um die vier Ecken geht.
Jetzt überquere ich eine Schnellstraße auf einer Fußgängerbrücke. Unter mir rasen die Autos vorbei, unterwegs in die Hauptstadt oder von dort zurück, zum Feierabend nach Hause. Der Fußweg führt durch einen Wald, ist aber asphaltiert und von Laternen gesäumt, die in den langen Wintermonaten für etwas Helligkeit sorgen. Ich bin neugierig, wo der Weg hinführt und schlendere langsam weiter. Der Lärm der Autos auf der Schnellstraße begleitet mich noch eine ganze Weile, aber durch den Wald schimmert jetzt auch das Wasser eines Sees oder Fjords. Plötzlich stehe ich vor einer S-Bahn Haltestelle. Das Gleis endet hier, ein Zug steht dort und der Fahrer sitzt in seiner Kabine und liest Zeitung. Zwei junge Mädchen stehen auf dem Bahnsteig und rauchen. Sie sind wohl auf dem Weg in das abendliche Vergnügen in der Stadt. Schön, dass dieser Randbezirk durch eine S-Bahn mit der Innenstadt verbunden ist, denke ich. Da braucht man kein Auto, wenn man abends ausgehen will und sicher fahren auch viele Leute damit zur Arbeit. Ich gehe auf den Bahnsteig um den Fahrplan zulesen. Einige der Namen die darauf stehen kenne ich bereits, denn ich war heute den ganzen Tag über in der Stadt unterwegs. Der Fahrer legt die Zeitung zur Seite und schaut zu mir. Eine stille Aufforderung jetzt einzusteigen. Die beiden Mädchen tun es und ich stecke mir ein Zigarillo an. Langsam fährt der Triebwagen ab.
Ich betrachte die Reklameplakate an einem Trafohäuschen. Konzerte, Veranstaltungen, Werbung für Ausstellungen und Museen. Langsam verlasse ich jetzt den einsamen Bahnhof und gehe durch den Wald hinunter zum Wasser. Es handelt sich wohl um einen See, denn ein Fjord, also das Meer, riecht anders. Am Ufer führt ein Spazierweg entlang, mit zahlreichen Bänken. Ein Mann begegnet mir, der seinen Hund spazieren führt. Wir nicken uns im vorbei gehen zu. Es scheint so, als habe er mich wieder erkannt, wieder von wo? Ein Jogger kommt mir entgegen. Immer wenn ich Jogger sehe, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Laufaktivitäten sträflich vernachlässigt habe. Er scheint das auch zu denken, jedenfalls schaut er mich im vorbei laufen so an.
Ich mache mich am Seeufer entlang zurück auf den Weg in die Siedlung. Diesmal gehe ich durch eine Unterführung unter der Schnellstraße hindurch und bin schon wieder bei den ersten Häusern. Osvald kommt mir entgegen und fragt, ob wir ein Bier trinken gehen. Ich stimme zu und sehe jetzt auch an der Ecke bei der Auffahrt zur Straßenbrücke die kleine Eckkneipe. Beim Eintreten werden wir vom Wirt begrüßt, auch ein paar Leute aus unserem Viertel sind da. Wir stellen uns an die Theke und bestellen Bier. Zum Rauchen gehen wir mit unseren Gläsern in der Hand auf die Terrasse vor dem Lokal. Der Mann mit dem Hund kommt jetzt auch vorbei. Von der Fußgängerbrücke kommen einige Leute, vermutlich ist gerade eine Bahn angekommen. Mira ist auch dabei. Sie trägt einige Einkaufstüten und ich gehe ihr ein Stück entgegen. Sie zeigt mir, was sie eingekauft hat und ich begleite sie bis zu ihrer Wohnung. Es ist ein kleines Holzhaus mit vielen Blumen im Garten davor und auf den Fensterbänken. Wir verabschieden uns und beim weiter gehen grüße ich die Nachbarinnen, die vor dem Haus nebenan stehen und sich unterhalten. Ein Auto kommt die Straße entlang gefahren, was in dieser Gegend schon fast auffällt. Hier ist sehr wenig Verkehr, die Kinder können auf den Straßen spielen und Katzen können sie gefahrlos überqueren. Im nächsten Garten tollen die Kinder von Carstensen herum, sie sind schon ganz schön gewachsen. Ich kicke den Ball zurück über den Zaun, der mir vor die Füße gerollt ist. Ann winkt mir vom Fenster aus zu. Ihr Mann ist wohl noch nicht zu Hause, er kommt ja meistens recht spät. Die alte Frau Willems begleitet mich ein Stück. Hier alt zu werden, scheint auch recht problemlos zu sein. Hansen streicht sein Haus wieder mal, er macht das fast jedes Jahr, so schnell kann das Holz gar nicht verwittern.
An der Bushaltestelle sitzt ein Ehepaar, das aber offensichtlich nicht auf den Bus wartet. Als ich vorbei gehe, unterbrechen sie kurz ihr Streitgespräch. Auch das gibt es hier, stelle ich überrascht fest. Ich habe wieder den Wald erreicht und drehe mich noch einmal um. Alles ist mir vertraut, denke ich, nur ich bin fremd. Aber ich bin nicht alleine. Ich wechsele die Rollen, bin morgen vielleicht ein Fabrikarbeiter oder ein Fischer im Hafen. Vielleicht angele ich mit dem alten Ole an der Mole, denn der steht meistens dort und nicht nur wegen des Reimes. Ich erreiche wieder den Pfad zwischen den Büschen und bald darauf den Zaun am Campingplatz. Ich klettere über das Tor, einige Leute vor ihren Zelten schauen mich misstrauisch an. Anders als im Dorf scheint mich hier niemand zu kennen. Aber ich erkenne sie alle wieder, die jungen Leute im Gras vor den Zelten, die Familien vor ihren Wohnmobilen und die anderen, hinter ihren bläulich flackernden gardinenbehängten Fenstern. Ich bin wieder zu Hause, schon wieder. Das ist das Schöne, an diesen abendlichen Spaziergängen: Hier wie dort bin ich zu Hause. Mal sehen, wo das morgen sein wird.
Die Tage sind scheinbar grenzenlos, weil es nördlich des Polarkreises nicht dunkel wird. So muss wohl das Gefühl der Kinder sein, der Glaube an eine grenzenlose Zeit. Ich beobachte die beiden, die mit ihrem schwarz-weißen Hund auf den Felsen am Fjord herumtollen. Ein Mädchen mit Pferdeschwanz und ein Junge, vielleicht Freunde, vielleicht auch nur einfach so zusammen, ohne viel darüber nachzudenken. Probleme scheinen sie nicht zu kennen, sie nehmen sich und andere so wie sie sind. Glücklich in einer Gegend wie dieser aufzuwachsen, wo später in der Schule keine Drogen warten, wo Gewalt keine Rolle spielt, wo alle für einander da sind, wo die Umwelt noch in Ordnung ist. Zumindest bilde ich mir ein, dass es so ist. Aber vielleicht bin ich da ja genau so naiv, wie die beiden Kinder dort, die ich beobachte. Aber ich will es glauben und es macht mich zufrieden.
Dann mache ich einen Spaziergang hinunter durch das Dorf und zu den Bootshäusern am Fjord. Ein junges Paar sitzt auf der hölzernen Mole und lässt die Beine über dem Wasser baumeln. Sie unterhalten sich, küssen sich und schmiegen sich aneinander. Beide haben lange Haare, sind blond und hübsch. Wo geht man hier als junger Mensch abends hin? Ich frage mich das oft, wenn ich durch diese einsamen Dörfer fahre. Es gibt keine Jugendtreffpunkte und keine Discotheken, keine Boutiquen und keine Bistros. Ist es hier unausweichlich, dass man schneller zu einander findet? Ist der Weg in die Partnerschaft und die Familie vorgegeben, oder bleibt nur die Flucht in die Großstadt? Die beiden sitzen dicht nebeneinander und flüstern leise. Möglicherweise kennen sie sich schon seit der Kindheit, überlege ich und denke an die beiden Kinder auf den Felsen. Man kann sich hier nicht ausweichen. Vielleicht ist es aber auch in einer Gegend wie dieser leichter, zu sich selbst und zu einem Partner zu finden. Es gibt weniger Einflüsse von außen, weniger Ablenkung als in den Städten und vielleicht sind die jungen Leute hier ja auch ruhiger und ernster. Vielleicht begreifen sie hier eher, was die Schönheit ist, die der Natur und die der Menschen. Und sie lernen sicher schon früh zu erkennen, was wichtig und was unwichtig ist. Zumindest glaube ich, dass es so sein könnte. Und ich wünsche es mir auch: für die beiden verliebten jungen Leute auf dem Holzsteg und für mich, weil ich sie darum beneide.
Ich komme zurück zu den Felsen und sehe dort einen Mann beim Angeln. Hinter ihm steht eine langhaarige Frau im langen Kleid, mit zwei kleinen Kindern, die auf den Steinen herumtollen. Ich denke mir, dass sie hier in einem der schönen Holzhäuser wohnen, mit den liebevoll angelegten Vorgärten und selbstgehäkelten Gardinen. Vielleicht ist der Mann gerade dabei, das Abendessen zu fangen. Angeln ist Männersache. Oder vielleicht doch nicht? Es freut mich, dass die Frau und die Kinder mit dabei sind. Einmal übernimmt die Frau die Angel und der Mann beschäftigt sich mit den Kindern. Sie haben nicht nur zu einander gefunden, denke ich mir, sondern sie gehören zusammen, sagt dieses Bild. Und ich denke an das junge Paar von der Mole. Dies ist der weitere Weg und ich wünsche mir, dass es ein Weg in die Zufriedenheit ist. Streitigkeiten zerstören die Zeit und passen auch nicht in diese Idylle. Wer in dieser wunderschönen Gegend lebt und mit der Familie zum Angeln geht, der muss doch zufrieden sein, denke ich mir, weil ich es so haben will. Und während ich ihnen zuschaue, spüre ich, wie ich selbst zur Ruhe komme.
Später mache ich wieder einen Spaziergang hinunter zur Mole, die jetzt verlassen ist. Die Berge und Bäume spiegeln sich im stillen Wasser des Fjords. Es ist schon Nacht, zwar noch immer hell, doch das Licht hat sich verändert. Ich habe in den letzten Stunden drei Generationen beobachtet, habe mit meinen Blicken für kurze Zeit an ihrem Leben teilhaben können oder ich habe ihr Leben einfach erfunden. Ein Leben, um das ich sie beneide und in dem ich es selbst nie ausgehalten hätte. Meine Ruhelosigkeit hätte (und hat) mich fortgetrieben. Ich habe meinen Horizont immer mehr erweitern wollen und er ist dennoch immer zu klein geblieben. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht gelernt, so zu leben. Manche Menschen leben einfach, im doppelten Sinn des Wortes.
Ich habe einmal gelesen, dass noch nie jemand unter einem Regenbogen hindurchgegangen ist und es deshalb vollkommen egal ist, wie es auf der anderen Seite aussieht. Aber ich will es einfach nicht glauben.
(Hamaroy/Norge, Juli 2006)
(Der Dichter und Nobelpreisträger Knut Hamsun hat in Hamaroy gelebt.)
(alle Fotos aus Hamaroy - Link: bei Tromsö - Norge)
Betrachtungen über die Stille, die Einsamkeit und die Endlosigkeit
Jeder Kilometer führt mich weiter in die Stille. Weg vom Lärm der Städte und dem Geschwätz der Menschen. Deswegen fahre ich nach Lappland: wegen der Stille und der Einsamkeit und der Endlosigkeit.
Immer wird von irgendwem über irgendwas geredet. Eine ständige Geräuschkulisse begleitet mich durch den Tag und manchmal auch durch die Nacht. Immer sind irgendwelche Menschen um mich herum, immer will jemand was von mir. Oder ich selbst will etwas, das ich nicht bekomme.
Diese Stille hat nichts zu tun mit der Sprachlosigkeit, die mich zu Hause zwischen vielen Menschen oft befällt und die Einsamkeit, die ich oft vergeblich suchen muss, wird hier zur Selbstverständlichkeit. Auch der Unterschied zwischen „einsam“ und „alleine“ sein wird hier deutlicher und auch verständlicher.
Und es kommt noch etwas hinzu: die endlose Weite, die Grenzenlosigkeit. Die der Landschaft und die der Zeit. Die Tage sind unendlich, weil es im Sommer nördlich des Polarkreises nicht dunkel wird und die Landschaft im dünn besiedelten Lappland ist es sowieso.
Nach tausend Kilometern auf einsamen Straßen durch Lappland bin ich mir selbst näher, als ich es im deutschen Alltag je sein könnte. Aber natürlich nur, wenn ich bereit bin, mich dem Land zu öffnen und mich selbst zuzulassen. Auch die Ängste, die seit jeher mit dem Alleinesein und der Einsamkeit verbunden werden. Die Möglichkeit des spurlosen Verschwindens scheint hier überall gegeben und da würde man ohnehin nur sich selbst mitnehmen. Nicht was man ist, nicht was man hat und schon gar nicht, was man gerne sein würde. Nur sich selbst.
Die endlosen Tage geben mir das Gefühl unendlich Zeit zu haben. Ich weiß, dass das eine Illusion ist, aber ich gebe mich ihr gerne hin. Hier gibt es nichts, was mich ablenkt. Was ich sehe, ist fast immer Wald und was ich höre, ist meistens ein Fluss oder der Wind.
Zuerst kehrt die Ruhe in meine Augen ein, später in meinen Körper und zuletzt in meine Gedanken. Hier sind der Raum und die Zeit, das bisherige Leben zu überdenken, es neu zu ordnen, Pläne zu schmieden, Vorsätze zu fassen. Die langen hellen und ruhigen Nächte bieten viel Zeit zum Nachdenken.
Einsam sein hat für manche vielleicht etwas bedrohliches und kann der erste Schritt sein, sich selbst zu verlieren. Alleine sein ist angenehm, wenn man in sich selbst zu Hause ist und bietet die größte Chance, sich selbst und die Natur kennen zu lernen. In Lappland kann ich beides finden, aber letztlich doch nur das, was ich auch sehe und was in mir ist. Die Möglichkeit mich selbst kennen zu lernen wird mir hier geboten, mehr als in jeder Selbsterfahrungsgruppe, aber nutzen muss ich sie.
Und dazu gehört auch die Erfahrung der Ruhe. Was wir sonst für Ruhe halten, ist doch meistens nur das momentane Fehlen von Lärm. Erich Fried hat mal geschrieben: „Die Stille ist das, was übrig bleibt von den Schreien.“
Eine Straße, die kerzengerade bis zum Horizont führt, ist gleichzeitig die direkte Linie zu meinem Ziel. Die endlosen Wälder rechts und links davon, sind das unerforschte Labyrinth in meinem Unbewussten. Und ich habe die Wahl und die Möglichkeit, beides zu erfahren, im wahrsten Sinn des Wortes.
Und wenn ich am Straßenrand anhalte, einfach stehen bleibe, dann bleibt die Zeit scheinbar auch stehen. Aber hier wird es dann doch etwas trügerisch. Ich kann hier lange einfach stehen bleiben und nichts wird geschehen. Doch irgendwann, im Herbst, wird es langsam dunkel. Und es wird eine lange Dunkelheit sein, die dann über mich hereinbrechen wird. Alles was es zu tun gilt, muss ich also vorher getan haben. Und das ist dann auch schon fast wieder so, wie im richtigen Leben.
(Krokstrand, Polarsirkelen-Norge, Juli 2006) (Fotos: Lappland/Sverige)
Ich schlendere langsam die Straße entlang, auf dem Weg vom Arktikum zur großen Brücke. Vor mir geht ein dicker Mann, der so dick ist, dass seine Arme nicht gerade nach unten hängen können, sondern immer leicht abgespreizt sind. Ich muss zugeben, dass ich mit sehr dicken Menschen gewisse Probleme habe und es macht mir auch keinen Spaß, hinter ihm her zu laufen, aber er geht in der gleichen Geschwindigkeit wie ich und auch in die gleiche Richtung, immer etwa 5 m vor mir her.
Nur kurz ziehe ich in Erwägung, meine Richtung oder meine Geschwindigkeit zu ändern, doch ich denke mir, dass ich mir von so einem dicken Menschen doch nicht vorschreiben lasse, wie und wohin ich zu laufen habe. Ich beginne ärgerlich auf ihn zu werden.
Und so laufen wir brav hintereinander auf das Stadtzentrum zu. Von Zeit zu Zeit schaut er zurück, weil er wohl denkt, dass ich ihn verfolge. Ich gebe mir Mühe gelangweilt zu schauen, fühle mich aber selbst schon wie ein Verfolger.
Er winkt einem vorbeifahrenden Radfahrer zu und wird auch von diesem gegrüßt. Er grüßt einen entgegen kommenden Fußgänger, ein Auto hupt, er winkt dem Fahrer. Er grüßt einen Mann am Fenster eines Hauses, eine Frau in einem gegenüber parkendem Auto, einen Ladenbesitzer hinter dessen Schaufenster....., Er winkt und wird gegrüßt. Zwischendurch schaut er sich immer wieder nach seinem vermeintlichen Verfolger um.
Er scheint hier jeden zu kennen und von jedem gekannt zu werden. Ich finde das toll und beneide ihn darum, obwohl er doch so dick ist. Es muss schön sein, so in einer Stadt zu Hause zu sein, einfach dazu zu gehören, ohne Auflagen an sein Äußeres. Mein Ärger ist verschwunden, ich freue mich für ihn.
Plötzlich biegt er in einen kleinen Fußweg zwischen den Häusern ab. Scheinbar ist ihm die Verfolgung zu viel geworden. Ich gehe auf der Straße weiter, um die nächste Ecke und an der nächsten Kreuzung begegnen wir uns wieder. Jetzt grüßt er auch mich und ich winke ihm zu und wir müssen beide etwas lächeln.
So schnell kennt man sich in Rovaniemi, denke ich mir und gehöre plötzlich ein klein wenig dazu.
Auf meiner Reise entlang des Polarkreises hatte ich in Jokkmokk/Schweden, einer Stadt etwa 15 KM nördlich des Polarkreises, Station gemacht und vom dortigen Campingplatz am Lilla-Lule-Älv, einem wunderschönen zu einem See erweiterten Fluss, eine Radtour in Richtung Polarkreis unternommen. Der Weg führte mich erst entlang der Straße und dann auf einem breiten Forstweg hinein in den Wald. Ich wusste nicht, wo der Weg hinführt, nur dass die Richtung in etwa stimmen musste. Die Richtung zum Polarkreis. Außerdem wusste ich, dass die Inlandsbanan, die Lappland-Eisenbahnstrecke, auf ihrem Weg von Östersund nach Galiväre dort den Polarkreis überschreitet.
Meine Vermutung bestätigte sich als richtig, denn nach knapp einer Stunde Fahrt, zuletzt auf einem Schotterweg im Wald, kam ich an jene Stelle, wo der Weg auf die Eisenbahnstrecke trifft. Dort standen ein alter Wohnwagen und ein alter Volvo am Wegesrand und zwischen einer Menge Gerümpel, wie hölzerne Schuppen und einer Verkaufstheke mit Rentiergeweihen und Fellen, saß ein alter Mann, der genau dort hineinpasste. Er erklärte mir, dass zwei mal am Tag ein Zug vorbei kommen würde, morgens von Norden, abends von Süden. Jedes mal würde der Zug hier anhalten, zu diesem Zweck hatte man einen langen hölzernen Bahnsteig angelegt und Schilder aufgestellt, die auf die Überquerung des Polarkreises hinweisen. Die Reisenden, meistens Touristen, würden dann aussteigen um zu fotografieren und ab und zu auch etwas bei ihm zu kaufen. Ihm reiche das, er brauche das Geld nicht, aber es mache ihm Spaß hier zu sein. Während wir uns unterhielten, ich hatte meine weitere Radtour längst vergessen, war es Abend geworden. Und tatsächlich kam der Zug pünktlich und unterbrach hier seine Fahrt. Viele Leute stiegen aus, fotografierten sich mit dem Polarkreis-Schild und einige kauften tatsächlich etwas bei dem alten Mann. Ich schaute mir das bunte Treiben an, bewegte mich aber sonst nicht von meiner Holzkiste weg, auf der ich saß. Irgendwann ließ der Lokführer ein lautes Signal ertönen und die Leute wussten, dass es weitergehen würde. Langsam verschwanden alle wieder in den Waggons und der Zug setzte sich in Bewegung. Der alte Mann und ich, wir prosteten uns mit unserem Bier zu und erwarteten die Ruhe, die bald wieder einkehren würde
Als der letzte Waggon vom Bahnsteig verschwunden war, sah ich dort eine Gestalt sitzen. Da war ein Mensch, der nicht wieder in den Zug eingestiegen, sondern einfach dort sitzen geblieben war. Alleine am hölzernen Bahnsteig, mit Blick auf das Schild vom Polarkreis vor dem kleinen See. Der alte Mann und ich, wir sahen uns an und ich erhob mich langsam. Ich ging zu dem Bahnsteig, ein paar Stufen hinunter und erkannte, dass es eine junge Frau war, die dort saß. Neben ihr stand ein großer Rucksack. Sie schaute kurz hoch, als ich mich etwa drei Meter neben ihr auf den Bahnsteig setzte. Ich zündete mir ein Zigarillo an und schaute zu dem Schild vor dem See. „Zug verpasst?“ fragte ich dann auf englisch, ohne sie anzusehen und ohne zu wissen, ob sie mich überhaupt verstehen würde. Sie hatte lange dunkle Haare, war vielleicht Ende Zwanzig und sah nicht unbedingt wie eine Schwedin aus. Sie lachte. „Bist du hier der Fremdenführer?“ fragte sie, ebenfalls auf englisch, ohne mich anzusehen. „Vielleicht,“ antwortete ich. „Wohin soll ich dich führen?“ „Nach Jokkmokk,“ antwortete sie. „Der Zug fuhr dort hin,“ sagte ich, „da hättest du nur wieder einsteigen müssen.“ Sie lachte: „Ich weiß. Ich habe es nicht so eilig, dort hin zu kommen.“ „Das ist gut,“ sagte ich, „denn jetzt musst du zu Fuß gehen, das sind etwa 15 bis 20 Kilometer, oder bis morgen abend warten.“
Sie schaute mich jetzt zum ersten mal an und lächelte. „Was machst du hier, mitten im Wald?“ „Eine Radtour.“ Ihr Blick wurde zweifelnd. „Gib mir eine Zigarette.“ „Habe keine, nur Zigarillos.“ „Oh Scheiße, gib mir trotzdem eins.“ Ich zündete es ihr auch an und schaute zu dem alten Mann bei dem Wohnwagen. Er beobachtete uns. „Wo kommst du her?“ fragte sie. „Jetzt aus Jokkmokk, sonst aus Deutschland,“ antwortete ich. „Auch das noch,“ meinte sie, jetzt auf deutsch. Ich sah sie erstaunt an. „Du bist auch aus Deutschland?“ „Begleitest du mich nach Jokkmokk?“ fragte sie, ohne auf meine Frage einzugehen. „Das sind 20 Kilometer, willst du die laufen?“ fragte ich erstaunt. „Hast du eine andere Idee?“ Sie erhob sich, schulterte ihren Rucksack, warf das halb aufgerauchte Zigarillo auf den Schotter und ging auf dem Eisenbahngleis davon, in die Richtung, in die der Zug schon vor einiger Zeit verschwunden war. Ich sah ihr nach und schaute dann zu dem Mann am Wohnwagen. Er schüttelte den Kopf. Ich holte meinen kleinen Rucksack und mein Fahrrad vom Wohnwagen und folgte der Frau auf dem Bahngleis. Dem alten Mann winkte ich noch zu, ohne zurückzuschauen.
„Was ist kürzer, der Weg oder die Eisenbahnstrecke?“ fragte mich die Frau nach einer Weile und ich antwortete, dass der Weg über das Gleis auf jeden Fall kürzer wäre. „Na also,“ sagte sie, „ich heiße Anja.“ „Ich nickte und sagte meinen Namen. während dessen schob ich mein Fahrrad hinter ihr her über die verwitterten hölzernen Schwellen der Bahnstrecke. „Warum bist du hier ausgestiegen?“ fragte ich sie. „Ich weiß nicht so recht. Vielleicht hatte ich Angst anzukommen.“ „Und warum bist du weggefahren?“ „Ich komme aus Östersund und lebe dort mit meinem Freund zusammen. Wir haben uns wieder mal gestritten, ich habe die Nacht bei einer Freundin verbracht und bin am Morgen einfach in den Zug gestiegen.“ „Wo wolltest du hin?“ „Keine Ahnung, einfach nach Norden. Ich habe in Jokkmokk von unterwegs ein Zimmer im Hotel bestellt.“ „Und warum bist du dann nicht im Zug geblieben?“ „Vielleicht weil ich glaube, dass mein Freund dort am Bahnhof schon auf mich wartet.“ „Weil du es glaubst, oder weil du es hoffst?“ „Mann, was bist du denn für einer? Treffe ich hier im Wald einen Psychologen? Weil ich es fürchte, zum Teufel, ich könnte es jetzt nicht ertragen.“
Wir gingen dann eine Weile schweigend nebeneinander her. Nur unsere Schritte auf dem Schotter waren zu hören, die tiefstehende Sonne beleuchtete noch die Baumspitzen, der Wind bewegte die Äste und Sträucher entlang der einsamen eingleisigen Bahnstrecke. Dunkel würde es um diese Zeit am Polarkreis nicht werden, wir hatten also Zeit unser Ziel zu erreichen. „Warum bist du denn aus Östersund weggelaufen?“ „Ich weiß nicht so recht. Ich bin vor vielen Jahren mit meinen Eltern aus Deutschland nach Schweden gekommen, doch die sind dann irgendwann wieder zurück. Ich bin bei Ove, das ist mein Freund, in Östersund geblieben und eigentlich war alles in Ordnung und irgendwie auch vorherbestimmt. Warum fährst du hier alleine am Polarkreis mit dem Rad im Wald herum?“ Mit dieser plötzlichen Frage überraschte sie mich. „Vielleicht weil ich die Einsamkeit der endlosen Wälder liebe,“ antwortete ich, denn das sagte ich auch immer meinen Freunden in Deutschland. Und vielleicht stimmte es ja auch. „Das bedeutet doch auch Freiheit, oder?“ fragte sie mich. „Natürlich, das ist für mich auch Freiheit und die habe ich in Deutschland nicht.“ „Siehst du, und die hatte ich in Östersund in meiner Beziehung plötzlich nicht mehr.“ „Und hier glaubst du sie zu finden?“ Sie schaute mich überlegend an. „Ja, zumindest jetzt, auf dem Weg vom Polarkreis nach Jokkmokk. Was mich dort erwartet, will ich jetzt noch nicht wissen.“ Sie ging weiter und ich schaute ihr nach. Da hast du noch fünfzehn Kilometer Zeit, dachte ich mir und folgte ihr auf unserem Weg über das Eisenbahngleis.
Wir gingen wieder eine Weile schweigend, sie zwei Meter vor mir, ich schob mein Rad hinter ihr her. „Worum ging es?“ fragte ich und sie blieb stehen. „Worum ging was?“ „Euer Streit.“ Sie überlegte. „Keine Ahnung, meistens geht es doch immer um etwas anderes, als um das worum man streitet,“ antwortete sie und ich musste lachen. „Wer ist denn jetzt der Psychologe von uns beiden?“ Jetzt musste sie auch lachen. „Lassen wir das kluge Geschwätz. Der Wald ist sehr schön.“ Sie schaute sich um. „Deshalb komme ich hier her,“ sagte ich. „Ich liebe dieses Land und die Menschen.“ „Ach,“ meinte sie. „Du liebst mich?“ „Du hast recht, lassen wir das kluge Geschwätz,“ gestand ich ein und wir setzten unseren Weg schweigend fort. Sie zwei Meter vor mir, vor uns und hinter uns ein endloses Eisenbahngleis in noch endloseren Wäldern.
„Es ging um die Familie, die er wollte und ich nicht,“ sagte sie plötzlich, ohne stehen zu bleiben. „Er wollte Kinder, Haus und Garten und ich nicht. Zumindest noch nicht.“ Das kam mir so vertraut vor, was sie da sagte, deshalb erwiderte ich nichts und wartete, bis sie weiter sprach. „Aber irgendwie war das dann doch nicht der Grund. Ich glaube, ich liebe ihn einfach nicht mehr. Das gibt es doch, dass eine Liebe einfach endet, oder?“ „Ja, das gibt es,“ bestätigte ich aus eigener Erfahrung. „Aber es ist auch leichter, sich zu trennen, wenn man sich nicht mehr liebt.“ „Ist das nicht auch ein Stück Selbstaufgabe, wenn man dann einfach geht?“ überlegte sie. „Nein, eher ein Stück Selbstfindung,“ gab ich zu bedenken. „So etwas passiert doch hundert mal jeden Tag irgendwo in der Welt. Die meisten Menschen machen sich darüber gar keine Gedanken. Äußerlich sind tausend verschiedene Gründe dafür verantwortlich, aber eigentlich geht es doch immer nur um das Selbe. Die Suche.“ Sie drehte sich um und schaute mich an, ein leichter Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht. „Die Suche?“ wiederholte sie meine letzten Worte fragend. „Suche nach was?“ „Na, nach... was weiß ich,“ gab ich zu. „Selbstfindung, Verwirklichung, Zufriedenheit, Geborgenheit, Anerkennung, Wohlstand..... Es gibt immer irgend etwas, nach dem man sucht. Solange man es gemeinsam tut, ist alles in Ordnung. Davon leben die meisten Partnerschaften. Wenn man aber das Gefühl hat, der Partner ist einem bei der Suche im Weg, dann wird es problematisch.“ Sie schaute mich eine Weile schweigend an, dann ging sie weiter. „Wie weit ist es noch?“ fragte sie. „Weit genug,“ antwortete ich und folgte ihr, mein Rad über die Schwellen schiebend.
Etwa hundert Meter vor uns überquerte ein Rentier die Eisenbahnstrecke. Wir blieben stehen und schauten dem Tier nach. „Was glaubst du, wonach ich suche?“ fragte sie mich plötzlich und als ich nicht gleich antwortete fügte sie noch hinzu: „Und wonach suchst du?“ Das Rentier war inzwischen im Gebüsch verschwunden. „Ich denke, was du suchst ist Freiheit. Von der eigenen Familie zum Freund, der jetzt auch wieder Familie will. Du bist aus Deutschland nach Schweden, vermutlich nicht freiwillig als Kind, denn die Eltern haben bestimmt, was geschehen soll. Dann haben sie sich aber die Freiheit genommen, wieder zurückzugehen und du hast dir die Freiheit genommen, zu bleiben. Und jetzt droht sich alles zu wiederholen. Du bist doch jung, was soll das, die eine Familie bist du los, wozu gleich wieder eine neue?“ Das war jetzt eine lange Ansprache vor mir, an eine junge Frau, die ich kaum kannte, aber irgendwie schien ich sie getroffen zu haben, denn sie schaute mich mit offenem Mund an. „Soll ich dir jetzt sagen, wonach du suchst?“ fragte sie nach einer Weile. „Nein,“ antwortete ich und wir gingen weiter.
„Und wie glaubst du, kann ich dieses Problem lösen?“ fragte sie während des Gehens, ohne sich umzudrehen. „Auf jeden Fall nicht, indem du in den Wäldern am Polarkreis herumläufst,“ antwortete ich. „Rede mit deinem Freund, trenne dich oder trenne dich nicht, aber lebe dein Leben. Bleibe in Schweden, gehe nach Deutschland, tue was du willst und nicht was andere von dir wollen.“ „Hast du das auch so gemacht?“ fragte sie und ich nickte, was sie aber nicht sehen konnte, da sie vor mir ging. „Und was ist dabei herausgekommen?“ fragte sie weiter, so als ob sie meine Antwort doch gesehen oder zumindest mein Schweigen richtig gedeutet hätte. Ich antwortete nicht und wir gingen schweigend weiter. Noch etwa 10 Kilometer bis Jokkmokk.
„Morgen früh geht wieder ein Zug zurück nach Östersund,“ überlegte sie laut. „Ich werde im Hotel übernachten und morgen gleich wieder zurück fahren. Ich habe in Östersund einen Job und auch Freunde, aber ich brauche keinen festen Partner und erst recht keine Familie. Das werde ich ihm sagen.“ „Na prima,“ sagte ich, „das ist doch schon ein Anfang.“ „Wo fährst du noch hin?“ fragte sie dann. „Ich folge dem Polarkreis, von Finnland bis Norwegen.“ „Das ist eine imaginäre unsichtbare Linie, der du da folgst.“ „Genau. Aber es ist eine Linie.“ „Und wenn sie kein Ziel hat?“ „Sie hat kein Ziel. Der Polarkreis geht rund um die Erde, er hat keinen Anfang und kein Ende.“ Sie überlegte. „Was willst du damit sagen? Daß man eine Linie braucht, aber kein Ziel?“ Jetzt stutzte ich. Das gefiel mir, aber es stimmte. „Richtig. Ein Ziel ist auch gleichzeitig immer das Ende von etwas. Eine Linie ist endlos.“
Wir gingen eine Weile weiter ohne zu sprechen, dann sagte sie plötzlich: „Es ist schön, dass ich dich getroffen habe.“ „Du siehst, selbst die Einsamkeit des Polarkreises ist gar nicht so einsam. Gut, dass du aus dem Zug gestiegen bist, denn sonst wären wir uns nie begegnet.“ „Es war aber doch nur ein Zufall, dass du gerade dort gewesen bist.“ „Um so besser, dass du trotzdem ausgestiegen bist.“ „Eine Entscheidung aus dem Gefühl heraus,“ sagte sie. „Das denke ich mir,“ erwiderte ich. "Bei mir war es das auch."
Sie blieb stehen und stellte ihren Rucksack auf dem Schotter zwischen den Schwellen ab. Sie setzte sich auf eine Schiene und sagte: „Gib mir eines von deinen schrecklichen Zigarillos.“ Ich stellte meinen Rucksack ebenfalls auf dem Boden ab, legte mein Rad daneben und setzte mich auf das Gleis ihr gegenüber. Wir rauchten beide schweigend und sie schaute mich an. Dann erhob sie sich und setzte sich auf das Gleis dicht neben mich und legte ihren Kopf an meine Schulter. Und ich strich ihr über die Haare und legte meinen Arm um ihre Schultern. Niemand von uns sagte etwas, wir sahen uns an und küssten uns. Und wenn jetzt um die langgezogene Kurve des Eisenbahngleises plötzlich ein Zug gekommen wäre, ich glaube, es wäre uns egal gewesen. Aber um uns herum war nur die Einsamkeit der endlosen Wälder.
Wir hatten unseren Weg irgendwann fortgesetzt, sprachen nicht mehr sehr viel und erreichten bald Jokkmokk. Ein paar Schuppen, Lagerhallen, dann die ersten einsamen Häuser, eine Straße. Es war fast 23 Uhr und natürlich immer noch hell. An der Straße verließen wir das Gleis und gingen nebeneinander her in Richtung Stadt. Ob ihr Freund am Bahnhof gewartet hatte, schien sie nicht mehr zu interessieren. Wir erreichten die ersten Häuser, sahen den kleinen Park, die Kirche, ich kannte das ja alles schon. Ein größeres Holzhaus hatte die Aufschrift: „Jokkmokk-Hotel“ auf der Wand. Davor blieb Anja stehen und sah mich an. „Hier ist mein Ziel, zumindest für heute Nacht,“ sagte sie. Ich nickte. „Kommst du mit?“ fragte sie und sah mich an.
Der alte Mann vor seinem Wohnwagen am Polarkreis hob seine Tasse. Wir tranken den letzten Schluck Kaffee. Alle herumlaufenden Menschen waren wieder verschwunden, der Zug war längst schon abgefahren, Richtung Süden nach Östersund. Ich hatte ihm lange nachgeschaut, bis der letzte Waggon hinter einer Kurve in den endlosen Wäldern verschwunden war. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, obwohl noch früher Morgen war.
(Östersund, Sverige, Juli 2007)
(Fotos+Links: bei Jokkmokk/Polarkreis - Foto+Link Anja: bei Malmö)
Wenn ich von Norden her zum Polarkreis fuhr, dann war Fauske immer die letzte richtige Einkaufsmöglichkeit. Hier gab es Supermärkte, Tankstellen und auch einen Getränkemarkt, wo man richtig gutes Bier bekam. Auch mein geliebtes Mack aus Tromsö. Hier deckte ich mich also immer mit Proviant ein, bevor ich auf das unmittelbar am Polarkreis an einem schönen Fluss gelegene Camp Krokstrand fuhr, wo ich bisher auf jeder meiner Skandinavientouren Station gemacht hatte.
Diesmal kam ich von Rovaniemi in Finnland über Jokkmokk und Arjeplog in Schweden nach Fauske in Norwegen. Meine Tour ging immer entlang des Polarkreises. Bevor ich zur letzten Station nach Krokstrand fuhr um dort den Polarkreis über das Saltfjellet mit meinem Rad zu befahren, beschloss ich auf dem Campingplatz bei Fauske zu übernachten. Am nächsten Tag wollte ich mir dort für einige Tage Proviant besorgen.
Da es nördlich des Polarkreises um diese Zeit nicht dunkel wurde und ich nicht schlafen konnte, beschloss ich lange nach Mitternacht noch einen Spaziergang zu machen. Entlang der Straße, mit einem Abstecher zum Skjerdalsfjord, schlenderte ich langsam Richtung Fauske. Am Stadtrand sah ich in einer kleinen Reihenhaussiedlung, mit Holzhäusern und kleinen Vorgärten, eine Frau ihre Garagentür mit roter Farbe anstreichen. Ich blieb stehen und schaute ihr zu. Sie war ganz in ihre Arbeit vertieft, dass sie mich nicht bemerkte. Sonst waren keine Menschen zu sehen, vor den Häusern lag noch Kinderspielzeug herum, ein Gartengrill, leere Gläser auf einem Tisch, die meisten Fenster standen offen. In dieser Helligkeit wirkte das alles besonders verlassen und ich freute mich über die Frau, die nachts um halb zwei ihre Garagentür strich.
Plötzlich schien sie zu spüren, dass sie beobachtet wurde und schaute zu mir her. Ich lachte ihr zu und signalisierte mit dem Daumen nach oben, dass mir ihre Arbeit gefiel. Sie musste jetzt auch lachen, strich weiter die Tür, hielt aber gleich wieder inne und schaute her. Ich stand noch immer unbewegt dort und sie winkte mir zu, dass ich kommen solle. Ich war überrascht und zögerte zunächst noch etwas, ging aber dann zu ihr hin. Sie sprach auf Norwegisch zu mir und als ich deutlich machte, dass ich das kaum verstand, versuchte sie es in Englisch, aber sie sprach auch etwas Deutsch. Ihr Bruder sei mit einer deutschen Frau verheiratet und lebe in Bodo, nicht weit von hier an der Küste. Ob ich einen Kaffee wolle, fragte sie. Vielleicht ein Bier, meinte ich. Okay, ist auch besser um diese Zeit.
Sie stellte den Farbeimer auf den Boden, wischte ihre Hände an einem alten Lappen ab und ging Richtung Haus. Ich folgte ihr. Sie trug nur Flip-Flops ohne Strümpfe, enge Jeans voller Farbflecke und ein T-shirt. Die blonden Haare waren lang und lockig. Was ich um diese Zeit hier mache, fragte sie. Spazieren gehen, ich kann nicht schlafen. Ich auch nicht, deshalb streiche ich die Tür. Ihr Mann arbeitete auf einer Ölbohrinsel in der Nordsee, hatte immer vierzehn Tage Dienst und dann eine Woche frei. Zur Zeit sei er nicht da, sagte sie, als ich hinter ihr über die Terrasse die Küche betrat. Alles aus Holz, gemütlich eingerichtet. Sie holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. Ich heiße Marit, sagte sie und ich nannte meinen Namen ebenfalls, während sie die beiden Flaschen öffnete und mir eine reichte.
Wir gingen wieder auf die Terrasse hinaus und setzten uns in zwei Gartenstühle, die vor einem kleinen Tisch standen. Sie arbeite halbtags in Fauske in einer Bank, sagte sie, aber eigentlich nur aus Langeweile. Ihr Mann verdiene sehr viel und ihre Hauptbeschäftigung sei das Malen. Sie fahre oft mit ihrem kleinen Toyota in der Gegend herum und male Landschaften und Menschen. Morgen habe sie frei, deshalb sei sie die ganze Nacht wach. Sie liebe die langen hellen Nächte. Im Winter sei es lang genug dunkel. Da konnte ich ihr nur zustimmen. Mir gefielen die hellen Nächte genau so gut. Mir kam es gerade vor, als säße ich hier mit einer alten Freundin in der Küche. Ich fühlte mich fast zu Hause. Es war gar kein Thema, warum sie mich eingeladen hatte, irgendwie schien es selbstverständlich zu sein, zumal wir ohnehin die einzigen Menschen zu sein schienen, die um diese Zeit noch wach waren. Ob ich Hunger hätte, fragte sie und ich nickte. Während sie Spiegeleier zubereitete erzählte ich ihr von meiner Tour entlang des Polarkreises.
Später saßen wir zusammen am Tisch, aßen Eier und Brot und tranken die zweite Flasche Bier dazu. Ob es nicht manchmal einsam sei, so alleine unterwegs zu sein, fragte sie und ich nickte. Manchmal. Und ihr? Wo der Mann doch nur alle vierzehn Tage heim komme. Sie nickte auch. Aber ich bin hier zu Hause, sagte sie. Ich habe Freunde hier und Kollegen und nette Nachbarn. Sie deutete auf die anderen Holzhäuser. Ich nickte. Zu Hause habe ich nicht so viel davon, manchmal habe ich auf Reisen mehr Gesellschaft, du siehst ja. Sie lachte, ich hatte sie geduzt, aber in Norwegen war das sowieso selbstverständlich. Nein, auf Reisen war ich selten einsam, auch wenn ich alleine war. In Deutschland war ich noch nie nachts um zwei Uhr von einer Frau beim Garage streichen zum Essen eingeladen worden.
Machen wir einen kleinen Spaziergang? fragte sie. Musst du nicht weiter streichen? Nein, das war nur die Grundierung, die muss jetzt erst trocknen. Gehen wir zum Fjord. Wir verließen das Haus, sie schloss die Tür nicht ab und steckte sich eine Zigarette an. Ich nahm auch eine, als sie mir die Schachtel hin hielt. Wir schlenderten zwischen den schlafenden Häusern hindurch und dann über die Wiesen zum Fjord. Die Wolken leuchteten in der Sonne, die hinter den Bergen aber nicht zu sehen war.
Bist du glücklich hier? fragte ich sie und sie sah mich erstaunt an. Warum fragst du das? Weißt du, wenn ich durch die kleinen norwegischen Dörfer fahre, die schönen Holzhäuser und die tolle Landschaft sehe, dann denke ich mir, dass man hier einfach glücklich sein muss. Sie lachte. Wir sind hier nicht im Freiluftmuseum, wir leben hier, mit allem was dazu gehört, dem was wir mögen und dem was wir nicht mögen. Genau wie ihr in Deutschland. Ich nickte. Wenn ich nachts durch die schlafenden Vorstädte gehe, glaube ich manchmal, über den Schlaf der Menschen wachen zu müssen. Ich habe aber nicht geschlafen, sagte sie. Nein, du nicht. Und nach einer kleinen Pause, in der wir schweigend nebeneinander her gingen, sagte sie: Aber ich bin nicht glücklich.
Ich blieb stehen und sie ging ein paar Schritte weiter, dann drehte sie sich um. Wir sahen uns an. Statt zu fragen, willst du darüber reden, wie ein Hobbypsychologe, ging ich schweigend weiter und sie ebenso neben mir her. Und sie schien froh zu sein, dass ich sie nicht gefragt hatte. Sie blieb wieder stehen, sah mich einen Moment lang an, dann ging sie weiter. Ich folgte ihr bis zu einer Hütte, wo sie sich auf ein paar Bretter setzte, die vor der Hütte gestapelt waren. Sie wollte darüber reden.
Ich habe meine Kindheit hier in Fauske verbracht. Eltern, Bruder, alles ganz normal. Ausflüge auf die Lofoten, im Sommer manchmal nach Schweden oder auch nach Deutschland. Björn, meinen Mann, habe ich schon sehr früh kennen gelernt. Aber ich bin nach Oslo gegangen um Kunst zu studieren. Jedes Jahr zu Mittsommer habe ich meine Eltern hier besucht. Natürlich habe ich auch Björn wieder getroffen. Irgendwann haben wir geheiratet und ich bin nicht mehr nach Oslo zurück. Björn hatte inzwischen den Job bei der Ölgesellschaft und wir haben uns das Haus hier gekauft. Alles ganz normal und schön. Wenn Björn da ist, besuchen wir sonntags die Eltern, die auf der anderen Seite von Fauske wohnen, mein Vater ist Rentner, früher hat er im Hafen in Narvik gearbeitet. Mein Bruder ist in Bodo, mit deutscher Frau und Kindern, er arbeitet als Kapitän auf einer Fähre und pendelt zwischen Bodo und Moskenes auf den Lofoten. Alles ist geregelt, ich arbeite auf der Bank, habe nette Kollegen und meine Freundinnen leben mit ihren Familien alle hier in der Nähe. Alles ist so verdammt geregelt!
Sie war plötzlich laut geworden, stand auf und ging ein paar Schritte zum Wasser. Ich blieb auf den Brettern sitzen, dachte kurz an die Bretter, die die Welt bedeuten und schaute ihr nach. Es kam mir so bekannt vor, was sie da erzählte. Alles in geordneten Bahnen, nur für Glück und Zufriedenheit war da kein Platz mehr. Sie drehte sich um und sah zu mir her. Eigentlich bin ich glücklich, sagte sie mit einem bitteren Lächeln. Wir haben uns hier zufrieden eingerichtet und es ist ja auch schön hier. Aber es ist nur eine scheinbare Zufriedenheit, es ist nur das kleine Glück. Sie drehte sich wieder um und blickte auf den Fjord hinaus. Und ich wollte immer das Große!
Und nach einer Pause ohne zu mir herzuschauen, sagte sie: Ich wollte immer etwas, das ich nicht bekam. Ich bin immer hinter irgendetwas hergerannt, das zu schnell für mich war, aber ich war immer zufrieden mit dem, was ich erreicht hatte. Es ist so leicht, sich selbst zu belügen. Mit zitternden Händen kramte sie eine Zigarette aus ihrer Tasche und zündete sie an. Warum erzähle ich dir das eigentlich? Ich erhob mich von dem Bretterstapel und ging zu ihr, stellte mich neben sie, ohne sie zu berühren. Weil es vielleicht manchmal gut ist, wenn mitten in der Nacht ein Fremder vorbei kommt. Jetzt musste ich über meinen Satz lachen und fügte hinzu: Und ich kenne mich damit aus. Ich bin immer der Fremde.
Sie sah mich an und jetzt lächelte sie wieder. Bist du glücklich? fragte sie. Frag doch nicht so was, Marit. Ich bin in deinem Land zu Besuch, bleiben wir bei dir. Du bist ein seltsamer Reisender, sagte sie und ich nickte schweigend. Gehen wir zurück? Wir schlenderten entlang des Fjordes wieder in Richtung Fauske. Möchtest du was ändern, fragte ich sie. Ändern? Sie war erstaunt. Was sollte ich denn ändern? Ich bin nicht mehr so jung um neu anzufangen. Und manchmal ist es eine größere Herausforderung, sich mit den gegebenen Umständen abzufinden, als sie zu verändern. Du hast vielleicht recht, meinte ich. Ich habe mich nie damit abgefunden und habe trotzdem nichts verändert. Das führt zu nichts. Sie schüttelte den Kopf. Ich denke, du hast viel für dich verändert, aber du hast es nicht bemerkt.
Wir hatten inzwischen wieder ihr hübsches Holzhaus erreicht. In den Nachbarhäusern war noch alles ruhig, die Menschen schienen noch zu schlafen. Es war vier Uhr morgens und die Sonne stand inzwischen flach am Himmel. Das Garagentor war getrocknet, sie konnte den zweiten Farbanstrich auftragen. Ich musste zurück zu meinem Camp, denn in wenigen Stunden wollte ich zum Polarkreis fahren.
Weißt du, manchmal ist das kleine Glück das eigentlich Wichtige. Das große ist vielleicht nur etwas für unsere Träume. Es war schön, mit dir zu reden. Ich nickte und nahm sie kurz in die Arme. Dann ging ich davon und ohne mich umzudrehen reckte ich den Arm nach oben und winkte ihr zu. Die einsame Straße zog sich den Hügel hinauf zu meinem verlassenen Camp.
Ich war durch die Fjorde gekommen, mehrfach mit der Fähre auf der Straße 17 und schließlich in Nesna hängen geblieben. Das Wetter war gut, der Campingplatz direkt am Hafen gelegen und ich hatte keine Lust mehr, weiter zu fahren.
Mit dem Rad war ich ca. 15 Kilometer nach Hamaroy gefahren, was nur aus verstreut liegenden Häusern am Fjord bestand. Nachdem die Straße endete ging es weiter über eine Wiese, wo viele Schafe weideten und anschließend durch einen dichten Wald, bis der einsame Weg schließlich an einer Felswand endete, die steil in den Fjord abfiel. Die kleine Wiese am Ende des Weges war ein idealer und einsamer Platz zum Baden. Einige Feuerstellen zwischen den Felsen zeigten auch, dass dieser Platz häufiger zum Lagern verwendet wurde.
Ich stellte mein Rad ab, zog mich aus und nahm ein erfrischendes Bad. Danach setzte ich mich zum trocknen in die Sonne. Ich war gerade wieder angezogen, als zwei Radfahrer den Weg entlang kamen. Keine Stelle war so einsam, dass nicht doch jemand kommen konnte. Es waren ein junger Mann und ein hübsches Mädchen, die etwas erschraken, als sie mich im Gras sitzen sahen. Vermutlich hatten sie einen einsamen Platz gesucht und waren nicht erfreut, mich hier anzutreffen. Dem Gesicht des Burschen konnte man das auch ansehen. Das Mädchen dagegen war etwas neugierig und kam näher.
Sie sprach mich auf norwegisch an und ich antwortete auf englisch, dass ich ihre Sprache nicht spreche. Sie sprach auch gut englisch und fragte mich, was ich hier mache und wo ich herkomme. Ihr Begleiter saß etwas abseits auf einem Felsen am Wasser und hatte sich eine Zigarette angezündet. Ab und zu blickte er mürrisch zu uns her. Das Mädchen setzte sich zu mir ins Gras. Dein Freund wartet wohl auf dich, sagte ich und sie meinte lachend, dass das nichts mache. Sie schien gar nicht so böse zu sein, mich hier getroffen zu haben. Vielleicht wollte sie nicht unbedingt mit ihm alleine sein. Das ist nicht mein Freund, meinte sie, und fügte hinzu, dass er es wohl nur gerne wäre. Ich fragte, was sie hier vor hätten und sie lachte und meinte dass wohl nur er hier gerne etwas vor gehabt hätte, aber jetzt wäre ich ja hier. Ihr schien das ganz recht zu sein. Ich fragte, ob sie aus Nesna komme und sie nickte. Aber sie wolle so bald wie möglich weg von hier. Warum? Hier sei nichts los, nur Natur, Meer und Berge, aber sonst nichts. Sie wolle was erleben, irgendwo anders arbeiten, fremde Menschen kennen lernen. „Einen hast du jetzt schon kennen gelernt,“ sagte ich und sie lachte.
Dann erzählte sie mir, dass sie nichts mit Ove, so hieß ihr Freund, anfangen wolle, weil sie das Gefühl habe, dass er sie dann hier festhalten würde. Seine Eltern hätten hier ein Geschäft, das er übernehmen solle und dazu brauche er eine Frau. „Und das willst du nicht sein?“ „Nein.“ „Dann solltest du auch nicht mit ihm hier her fahren.“ „Warum nicht? Spaß haben zu wollen heißt ja nicht gleich heiraten.“ „Das sieht er wohl anders.“ Ich blickte zu dem jungen Mann auf den Felsen, der rauchend auf den Fjord hinaus starrte. Sie nickte. Und jetzt hatte ich ihnen den Spaß verdorben? Ich fragte, wo sie denn hin wolle. Der junge Mann rief etwas und sie antwortete ihm nur kurz auf norwegisch. Dann wandte sie sich wieder mir zu und erzählte in Englisch von Städten wie Oslo, Trondheim oder vom Ausland wie Stockholm oder Kopenhagen.
Und ich betrachtete sie, mit ihren leuchtenden Augen, den langen Wimpern, ihren hellen, windzerzausten kurzen lockigen Haaren und dem zarten Flaum in ihrem Nacken, den leicht geröteten Wangen und ihrem zarten Körper unter dem dünnen Kleid und ich dachte mir, die Welt ist viel zu groß und zu gefährlich, für ein kleines Mädchen wie dich. Und sie hört auch nicht hinter Stockholm oder Kopenhagen auf. Dieses junge norwegische Mädel weckte meinen unbewussten Beschützerinstinkt. Ich wollte sie beschützen vor der bösen Welt da draußen und wahrscheinlich auch vor dem jungen Mann auf dem Felsen dort drüben. Und ich musste innerlich etwas lächeln über meine Naivität, die genau so groß war, wie die des Mädchens. Natürlich konnte man niemand vor seinen eigenen Erfahrungen beschützen. Und man sollte es auch nicht.
Ich steckte mir eine Zigarette an und gab ihr auch eine, als sie mich darum bat. Sie hat kleine zarte Hände, dachte ich mir. Wir rauchten eine Weile schweigend und ich blickte hin und wieder zu dem jungen Mann hinüber. Sie schien ihn vergessen zu haben. Schlechte Karten mein Junge, dachte ich mir und er tat mir fast leid. Mir schien es so, dass ich, obwohl ich hier mit dem Mädel zusammen saß, doch mehr mit ihm gemeinsam hatte. Der Realist als ewiger Verlierer. Nur die Träumer gewinnen, auch wenn sie scheitern. Und dieses Mädchen vor mir war eine Träumerin. Und ich, der ewige Gratwanderer zwischen Realist und Träumer, hatte in meinem Alter nichts mehr zu verlieren. Entweder ich hatte es ohnehin schon verloren, oder ich hatte es mir noch gar nicht vorgestellt. Dieses junge Mädchen zeigte mir den unverbrauchten Optimismus der Jugend. Ich glaubte, dass ich nie so jung gewesen war, wie sie.
Ich hätte sie jetzt gerne mal in den Arm genommen, als ich sie so anschaute, wie sie da neben mir saß, aber mit ihren Gedanken weit weg von diesem Fjord war. Aber diese Stille, die zwischen und lag, war gleichzeitig Nähe und Sicherheit für diesen Moment. Wir spürten das in eben diesem Moment wohl beide und das war es, was uns irgendwo tief im Innern verband. Später würden wir das ohnehin nicht mehr begreifen und uns möglicherweise auch gar nicht mehr daran erinnern.
„Wie heißt du denn,“ fragte ich in die Stille hinein. „Anna“, sagte sie. Ich nickte, das dachte ich mir *). Es sind immer die gleichen Dinge, die einem passieren, manchmal zu früh und manchmal zu spät, aber immer noch besser, als überhaupt nicht. „Pass gut auf dich auf, Anna.“
*)Es gibt da noch eine Geschichte mit einer Anna auf Lipari, viele Jahre zuvor.)
Von Nesna war ich entlang des Fjordes und über die Berge nach Mo i Rana gefahren und weiter hinauf zum Saltfjellet, einer kargen Hochebene, über die der Polarkreis führte. Kurz davor, mitten im Wald, nur mit einem Cafe und einer kleinen Pension an der E 6, lag Krokstrand, wo sich auch ein kleiner Campingplatz an einem Fluss befand. Dieser Platz war seit meiner ersten Nordkapptour so etwas wie ein kleines Zuhause für mich. Wenn ich heute an den Moment meiner letzten absoluten Zufriedenheit und Einigkeit mit mir selbst denke, dann sehe ich mich auf einer Bank an diesem Fluss sitzen. Deshalb konnte ich hier auch nie vorbei fahren und auch diesmal hatte ich hier Station gemacht.
Oberhalb von Krokstrand führte an den Hängen der Berge die Eisenbahnstrecke nach Bodo über den Polarkreis vorbei. Es gab hier einen alten Bahnhof, längst still gelegt, wo noch einige Holzhäuser neben dem Gleis standen. Da es in Krokstrand sonst nichts gab, wo man abends mal schnell hingehen konnte, ging ich gerne noch den Berg hinauf zu diesem verlassenen Bahnhof, wo die späte Sonne noch lange zu sehen war. Ich nahm mir was zu trinken mit und setzte mich auf den zugewachsenen Bahnsteig. Hier konnte ich gut nachdenken und manchmal kam auch ein Zug vorbei.
Diesmal kam ein Mann vorbei, ich sah ihn schon von weitem kommen, er lief auf dem Gleis. Ich saß auf dem Bahnsteig, bewegte mich nicht und sah ihm entgegen. Als er bei mir ankam, sah er auf mich herunter. Er schaute mich an und sagte nichts. Er war viele Jahre älter als ich. Wahrscheinlich spürte er, dass ich ihn ohnehin nicht verstehen würde. Er setzte sich neben mich auf den Bahnsteig und kramte aus seiner Hosentasche eine zerknüllte Zigarette heraus. Ich gab ihm Feuer. „Welche Sprache sprichst du?“ fragte er mich. Es schien ein Mann zu sein, der seine Worte nicht sinnlos vertun wollte. Wir einigten uns auf Deutsch/Englisch, er sprach von beidem ein wenig. Was machst du hier? Das war die erste Frage, die er mir und ich ihm stellte, vollkommen sinnlos, denn wir beide würden sie auf Anhieb nie richtig beantworten können. Ich sitze nur hier und warte auf den Abend, sagte ich. Noch nie ist jemand hier vorbei gekommen. Du bist der Erste. Er schaute mich an und sagte: Ich laufe oft hier entlang, aber noch nie hat hier jemand gesessen. Jetzt haben wir was gemeinsam, meinte ich. Warum läufst du hier entlang? Ich überprüfe die Gleise. Wohl ein sehr einsamer Job, oder? Er lachte, es ist der einzige, den ich kann und ich habe nie etwas anderes gemacht. Warum hier? Weil ich hier geboren bin und hier her gehöre. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: Gelebt habe ich die meiste Zeit wo anders. Er war plötzlich sehr nachdenklich geworden. Wo? fragte ich.
Erst zögerte er noch etwas, aber dann begann er zu erzählen, von seiner Jugend in einem kleinen Dorf hier in der Nähe. Wahrscheinlich weil er seine Geschichte selten erzählte und sich solche Dinge einem Fremden manchmal leichter erzählen ließen. Ich verstand das nur zu gut. Seine Großeltern hatten hier noch eine karge Landwirtschaft. Sein Vater war dann schon in eine Fabrik in Mo i Rana gegangen und für ihn sei nichts übrig geblieben, sagte er. Keine Zukunft, fragte ich. Die Gegend um den Polarkreis sei nur Natur, einsam und wunderschön. Doch davon könne man nicht leben, noch dazu wenn man jung sei. Diese Worte hatte ich vorgestern von Anna auch schon gehört. „Und du bist weggegangen?“ „Zwangsläufig!“ Er wirkte sehr nachdenklich, als er das sagte. Das war die Nachdenklichkeit alternder Männer, wenn sie von früher erzählten und dabei an junge Frauen dachten. Ich kannte das aus eigener Erfahrung. Ich fragte ihn deshalb, ob es niemand gegeben habe, der ihn hier halten wollte. Er schien diese Frage erwartet zu haben und lachte. „Gegen die große Welt hatte ein kleines Mädchen doch keine Chance,“ sagte er. Dieses „Halten“ war damals doch nur ein festhalten, ein gefangen halten. Damals konnte man doch noch nicht ahnen, dass es etwas mit Sicherheit und Zufriedenheit zu tun haben könnte. Das waren doch Begriffe, mit denen man nichts anfangen konnte. Und man wollte es auch nicht. Weißt du, wenn man sein Leben rückwärts betrachtet, sieht alles anders aus. Damals war eine Zukunft in unserem Dorf alles andere, als erstrebenswert. Die neue Straße über das Saltfjellet, auf der du sicher gefahren bist, war noch nicht mal gebaut. Nein, es ging darum, die Welt zu sehen, etwas zu erleben. Für Menschen, die einem zu nahe kommen könnten, war da kein Platz. Mit meinem Job bei der Eisenbahn kam ich weit herum. Erst Deutschland, dann der Balkan, schließlich der Orient. Gebaut wurde überall. Und ich war immer dabei.
Und was ist aus dem kleinen Mädchen von damals geworden? fragte ich. Frauen gab es überall, auch der Versuch einer Familie, damals in der Türkei, sogar einen Sohn, doch der sei bei der Fremdenlegion in Afrika verschollen. Und die Frau? Die ist gestorben und ich bin zurückgekehrt nach Norwegen. Das ist schon lange her. Und das kleine Mädchen von damals gab es auch nicht mehr. Es war hoffentlich alt geworden und hatte Familie und Kinder gehabt und vielleicht auch ein zufriedenes Leben ohne mich. Ich habe mein Leben lang in der Welt etwas gesucht, und ich habe auch viel gefunden. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob es auch das war, was ich gesucht habe. Nirgends ist es so schön wie in Norwegen. Und so einsam, fügte er nach einer Weile hinzu. Du bist hier zu Hause, gab ich zu bedenken. Er sah mich an. Nicht mehr, seit ich weg gegangen bin. Aber dieses Suchen war es trotzdem wert, deshalb bereue ich nichts.
Wir schauten eine Weile in die untergehende Sonne und schwiegen. Dann fragte er: „Und du? Was ist mit dir? Warum sitzt du hier alleine am Polarkreis mitten im Wald?“ Schon wieder so eine Frage, die ich nicht wollte. Als ob mir jemals klar gewesen wäre, warum ich etwas tat oder nicht. Schließlich war das ja auch nie wichtig gewesen, Hauptsache man tat etwas. Aber die Wichtigkeit der Dinge hat sich verändert, mit zunehmender Seltenheit an Bedeutung gewonnen. „Ich sitze halt hier, nur so...“ antwortete ich.
Die tief stehende Sonne hatte bis zuletzt das Gleis wie zwei goldene Linien aussehen lassen und versank jetzt langsam hinter den Hügeln am Horizont. Noch leuchteten die Bergspitzen mit den vereinzelten Schneefeldern. Ein Zug kam aus der untergehenden Sonne, fuhr ratternd an uns vorbei in die kommende Dunkelheit, die aber nicht kommen würde, weil es um diese Zeit am Polarkreis keine Dunkelheit gab. Zwei Männer auf einem stillgelegten Bahnsteig sahen ihm erwartungsvoll nach, als würde bei seinem Verschwinden alles neu beginnen. Und nur der Lokführer, der aus seinem Fenster schaute, behielt diese Szene noch eine Weile in seiner Erinnerung.
Am übernächsten Tag war ich von Krokstrand zurück nach Mo i Rana gefahren und von hier aus über die Berge und die wilde karge Hochebene nach Tärnaby in Schweden. Hier hatte ich ein schönes Camp an einem reißenden Fluss, das ich schon von einer früheren Tour kannte. Ich war müde und erschöpft. Seit Tagen hatte ich nicht mehr richtig geschlafen. Die hellen Sommernächte und die dunklen Herbstgedanken hielten mich wach. Das junge Mädel in Nesna, Anna, hatte mich in den letzten Nächten doch sehr beschäftigt. Ich beneidete sie um das, was sie alles noch vor sich hatte. Auch um ihre Enttäuschungen. Und den alten Mann von Krokstrand beneidete ich um sein unruhiges, aber ausgefülltes Leben, das er hinter sich hatte. Vermutlich auch die gleichen Enttäuschungen. Die beiden waren sich sehr ähnlich, ohne von einander zu wissen und obwohl mehrere Generationen sie trennten.
Und ich dachte mir manchmal, nichts von dem habe ich noch vor mir und nichts von allem habe ich hinter mir. Und doch war es mein Weg, dessen Beginn und dessen Ende mir bei diesen Begegnungen vor Augen geführt wurde. Das war doch meine Geschichte, was die beiden mir da erzählt hatten, so oder so ähnlich. Eine Geschichte von einer immer kürzer werdenden Zukunft und einer immer länger werdenden Vergangenheit. Und weil ich in den langen hellen Nächten sowieso nicht schlafen konnte, obwohl ich hundemüde war und weil tausende von Mücken mich am ruhig sitzen hinderten und man dadurch meine ohnehin vorhandene Unruhe nicht so merkte, ging ich am Ufer des Flusses entlang, durch den Wald, bis zu jener Stelle, wo der Fluss aus einem See entsprang und von einer schmalen Hängebrücke überspannt wurde. Auf den Bergen hinter dem See waren noch Schneereste und an dem langen Sandstrand standen einige Ferienhäuser, fast alle unbewohnt, aber alle mit ihrer eigenen Geschichte. Auch wenn es nicht dunkel wurde, so veränderte sich doch das Licht.
Während ich am Seeufer durch den Sand stapfte, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Ich war doch nicht zum Polarkreis gekommen, um meine Vergangenheit zu bewältigen und meine Zukunft zu ordnen. Und doch war es egal, wohin ich zu flüchten versuchte, mir selbst entkam ich nicht. Wenn etwas angesagt war, dann nahmst man es mit, egal wo hin. Und mir war ja schon seit meiner ersten Reise nach Lappland klar, dass es hier so einsam war, dass man nur sich selbst ausgeliefert sein konnte. Und wenn man so ganz alleine in den Wäldern unterwegs war, dann entwickelte man auch Fähigkeiten, sich selbst auszuweichen. Das war eine Form des Überlebenstriebs. Da bedurfte es schon eines jungen Mädchens und eines alten Mannes, um dieses sichere Gefüge zum Einsturz zu bringen. Und es half auch nichts, wenn ich in die helle Nacht hinaus brüllte: Lasst mich in Ruhe!!! Aber ich hatte ja ohnehin nur die Mücken gemeint, die mich umschwärmten und sich auch kaum vom Rauch meines Zigarillos verjagen ließen.
Ich hatte am Seeufer eine alte Holzhütte gefunden. Es war fast Mitternacht, als ich mich zu Boden setzte und mit dem Rücken gegen die Hütte lehnte. Meine innere Aufgewühltheit begann sich langsam zu beruhigen. Ich hatte mich in einen Jäger und Fallensteller verwandelt, der in den Wäldern lebte und jetzt in seine eigene Falle getreten war. Ich stellte mir vor, wie der alte Mann und das junge Mädchen sich trafen. Sie erzählte von ihren Träumen und er berichtete von seiner Wirklichkeit. Er belächelte ihre Zuversicht und gab ihr keine guten Ratschläge und sie hörte ihm einfach nur zu. Genau deshalb würde sie vielleicht etwas von ihm lernen und er auch noch möglicherweise etwas von ihr. Mich aber brauchten die beiden nicht mehr. Ich würde mich gerne seitlich aus dieser Geschichte schleichen:
ABER ES GELINGT MIR NICHT!
Und so schlendere ich langsam wieder am Fluss entlang zurück zu meinem Camp, begleitet von tausend Mücken und tausend Gedanken. Lange nach Mitternacht habe ich schon fast wieder eine schlaflose Nacht hinter mich gebracht, egal ob hier in Tärnaby oder anderswo. In Krokstrand, Nesna, Jokkmokk, Östersund, Malmö oder München, egal ob die Nächte hell sind oder dunkel, egal ob sie Anna heißen oder alte Männer sind: Ich bin es, um den es geht. Als ob ich das nicht schon längst geahnt hätte. Und so setze ich mich an den Fluss und schreibe diese Geschichte nieder. Diese oder eine andere, es ist doch immer die gleiche Geschichte.
(Tärnaby, Schweden, Juli 2009)
(Fotos und Links: Nesna/N, Krokstrand/N, Tärnaby/S)